Das aktuelle Jahr hat noch ein paar Tage. Mir war das erschreckend bewusst, als ich den bisher letzten Nachruf schrieb. Schon zu dem Zeitpunkt hatte ich die Nase gestrichen voll — zu vielen Menschen, die mir auf die eine oder andere Weise etwas bedeutet haben, starben 2016.
Menschen, die wenn man vor dem Begriff nicht zurückschreckt, Vorbilder waren. Menschen, die sich wohltuend von der Masse abhoben, Menschen die etwas bewirkten. Und Menschen, die etwas hatten, was selten geworden ist: eine eigene Haltung.
Diese Woche verstarb im Alter von 95 Jahren Hildegard Hamm-Brücher. Für mich war sie die Verkörperung dessen, was Liberalismus ausmacht. Liberalismus, so wie er ursprünglich mal gedacht war, fernab von Lobbyismus und Mehrheitsbeschaffung. Freiheit des Einzelnen, frei von Zwängen, sich gegen Willkür und Machtmissbrauch richtend. Wobei für mich persönlich Liberalismus immer nur als Sozialliberalismus denkbar ist. Für mich gibt es daher viele Gründe, warum ich nie FDP-Mitglied wurde.
Zurück aber zu Hamm-Brücher. Ihre Ansichten zum Liberalismus kenne ich, muss ich zum meiner Schande gestehen, nicht im Detail. Was ich aber weiss: sie war ein Mensch, der eine Überzeugung hatte und daraus auch eine Haltung ableitete. Ein Mensch, welche offensichtlich so handelte, dass er auch am nächsten Tag noch in den Spiegel schauen konnte — eine Redewendung, die mir nach wie vor sehr gut gefällt.
Im Oktober 1982 wurde die Sozialliberale Koalition unter Bundeskanzler Helmut Schmidt durch ein konstruktives Misstrauensvotum zu Fall gebracht. Die FDP wechselte die Seiten und schloss sich der CDU und Helmut Kohl an. Nicht so Hamm-Brücher, die sich bei der entscheidenden Debatte im Bundestag ganz zum Schluss zu Worte meldete und klipp und klar sagte, was sie davon hielt. Schmidt habe es nicht verdient, auf diese Weise aus dem Amt getrieben zu werden. Und Kohl habe es nicht verdient, ohne Votum der Wähler zum Kanzler zu werden.
Politisch war Hamm-Brücher damit für höhere Weihen erledigt. Ebenfalls auch für Helmut Kohl, der sie mit Nichtbeachtung versuchte zu strafen.
Mit ihrer FDP bracht Hamm-Brücher dann im September 2002, weil sie den antisemitischen Kurs, welcher Jürgen Müllmann einschlug, nicht mittragen wollte und ihr eine deutliche Distanzierung der FDP von Müllmann fehlte. Wieder eine Haltung, für die man bereit ist mit allen Konsequenzen einzustehen.
Der Nachruf in der heutigen Ausgabe der Süddeutsche Zeitung ist bewegend. Zu Tränen rührt jedoch ein Satz, der alles zusammenfasst, was sich über Hildegard Hamm-Brücher sagen lässt:
Sie war vielleicht die beste Bundespräsidentin, die Deutschland nie hatte.
Quelle:Detlef Esslinger, SZ vom 10.12.2016
Genau so ist es. Sie wäre eine großartige Bundespräsidentin gewesen.