Schreiben für alle Sinne bezieht sich nicht auf bestimmte, schlüpfrige Genres, sondern ist für alle Formen der Prosa und Lyrik erstrebenswert. Während der Autor beim schreiben eine Szene unmittelbar vor sich sieht und genau weiß, wie alles darin auszusehen hat, ist der Leser auf genau das beschränkt, was der Autor ihm mitteilt.
Dabei kann und soll man sich als Autor nicht drauf verlassen, dass der Leser schon die Lücken im Text füllen wird. Die Kunst ist, weder zu viel noch zu wenig zu beschreiben. Reine Auflistungen von dem, was sich beispielsweise in einem Raum befindet, gehören eher die Kataloge von Möbelhäusern. Wobei selbst das nicht mehr immer stimmt.

Ein Raum ist keine leere Kulisse, sondern erfüllt innerhalb der Handlung eine bestimmte Aufgabe. Natürlich erzählt das Foto oben aus dem aktuellen IKEA-Katalog keine Geschichte, aber auf ihm werden Gegenstände und der Raum in Bezug zu den abgebildeten Personen gesetzt. Genau das gilt es auch, im Roman zu verwirklichen. Wenn etwas unwichtig ist, gehört es nicht in die Szene. Alles hat in der Handlung eine Bedeutung, ansonsten würde es nicht erzählt werden. Maxime dabei ist, den Leser nicht zu langweilen, beständig die Spannung aufrecht zu erhalten. Nur das sorgt schließlich auch dafür, dass das Buch bis zu Ende gelesen wird.
Bei der Beschreibung sollten, wie einleitend bereits erwähnt, möglichst alle Sinne des Lesers angesprochen werden, so dass er ein gute Vorstellung von dem bekommt, was ihm der Autor mitteilen will. Die Szene aus dem Katalog lässt sich auf verschieden Arten beschreiben.
Wie jeden Morgen waren sie wieder zu viert im Badezimmer. Während William sich noch mit dem kleinen Max beschäftigte, stand Helena mit Timo am Waschbecken.
Das ist die Kurzfassung, noch ohne Inventar und Details zu den Figuren. Man erfährt fast nichts.
Helena hatte ihr Haare hinten hochgesteckt und stand mit Timo am quadratischen Wachbecken mit dem roten Unterbau. Sie trug ein weiß-grau karierten Pyjama und überragte mit ihrem 1,73 Metern ihren achtjährigen Sohn in seinem gestreiften Schlafanzug. Ihr Mann William hinter ihr im weiß gefliesten Badezimmer hatte bereits ein T-Shirt an und spielte mit dem kleinen Max, statt ihm eine neue Windel anzuziehen. Trotz der frühen Stunde blickte ihr kein müdes Gesicht im Spiegelschrank entgegen.
Der nächste Versuch beschreibt zwar mehr, spricht aber kaum die Sinne des Leser an.
Von den Fließen der Fußbodenheizung zog die Wärme in Helenas nackte Füße. Das helle Licht des Badezimmers wurde von den weißen Kacheln an der Wand reflektiert. Um die an eine Arztpraxis anmutenden Sterilität zu durchbrechen, hatte Helena auf dem roten Waschschbeckenschrank bestanden und sich gegenüber William auch durchsetzen können. Aus dem Becken roch es noch nach Resten der Minzzahnpaste, die ihr ältester Sohn Timo gerade versuchte wegzuspülen. Helena unterdrückte den Impuls, mit der Hand hinterher zu wischen. Über das Glas des Spiegelschranks beobachtet sie William, der hinter ihr hockte und mit Max spielte, statt ihm wie vereinbart die Windel zu wechseln. Gerade früh morgens würde sie lieber das Badezimmer für sich alleine haben, ihren weiß-grau karierten Pyjama abstreifen, was leichter ging als das Leben, in welches sie sich hatte fallen lassen.
In diesem Versuch werden mehre Sinne angesprochen. Zugleich lebt die Szene davon, dass sie einen Konflikt zwischen William und Helena andeutet. Mehrere charakteristische Eigenschaften von Helena und William werden beschrieben. Das wohl Wichtigste hier ist die Verknüpfung der reinen Beschreibung mit den Figuren.