Wenn sich feste Dinge verflüssigen, muss das nicht immer ein Vorteil sein. Geschmolzenes Eis ist keines mehr. So wird aus einem leckeren Nachtisch eine unansehnliche Brühe.
Von den Piraten wird das Modell der „Liquid Democracy“ befürwortet. Jeder soll mitreden und abstimmen können, über alle politischen Belange. Bisher war ich mir noch nicht sicher, wie meine Haltung dazu aussieht. Damals, bei den JUSOS, waren wir Anhänger der Volksabstimmung. Mindestens über alle wichtigen Entscheidungen sollte abgestimmt werden. Mittlerweile sehe ich meine damalige Haltung skeptisch. Viele Ereignisse haben dazu beigetragen, zuletzt der über Facebook verbreitet Lynchaufruf nach dem Mord an einem Mädchen in Emden.
Was gegen Liquid Democracy spricht, bringt Boris Palmer in einem Artikel bei Zeit Online gut auf den Punkt. In einer komplexen Welt sind wir auf Experten angewiesen. Niemand käme auf die Idee, sein Handy selber zu reparieren oder zu bauen. Palmer hat ein gutes Bild dafür:
Schon ein Kind kann ein Handy bedienen, weil es nur die Oberfläche benutzt. Diese Oberfläche ist in der Politik die Abstimmung. Die politischen Parteien sind eine Benutzeroberfläche der Demokratie, die es uns überhaupt ermöglicht, Einfluss auf den Staat zu nehmen. Wählen können wir dabei wie beim Handy eben zwischen einer begrenzten Anzahl von Modellen. Wem die Auswahl nicht passt, wird sich allein kein eigenes basteln können.
Quelle: Zeit Online
Politische Entscheidungen (zumindest sollten sie das) werden nicht aus dem Bauch heraus getroffen. Komplexe Zusammenhänge erfordern es, dass man sich in das Thema einarbeitet. Dafür haben wir Politiker, die das für uns übernehmen. Wir selber sind, so wie es auch Palmer schreibt, gar nicht in der Lage, die Menge an Informationen zusätzliche zu unserem normalen Berufsalltag zu erfassen.
Die Argumentation von Palmer hat mich überzeugt, genauso wie der Kommentar zum gleichen Thema heute im Kölner Stadt-Anzeiger von Rolf Schwartmann.
Die möglichst breit angelegte Diskussion über Themen ist richtig und wichtig. Sie können für Meinungsbildungsprozesse auch in den Parteien relevant sein. Abgestimmt werden sollte jedoch von einem gewählten Vertreter, nicht von einem (anonymen) Schwarm. Die Väter (und Mutter) unserer Verfassung haben ganz bewusst auf eine repräsentative Demokratie gesetzt – auch aus den historischen Erfahrungen heraus.
Niemand behauptet, dass die Bürgerinnen und Bürger zu dumm für direkte Demokratie wären. Die meisten von uns sind wohl auch viel reifer, als so mancher Politiker es für möglich hält. Trotzdem aber entsteht aus der Masse heraus nicht immer das Richtige. Je mehr abstimmen können, desto größer ist die Gefahr eines Stillstands. Wer ist schon für regenerative Energie, so wichtig sie auch sein mag, wenn es bedeutet, dass er in Sichtweite ein Windrad vor das eigene Haus bekommt? Manchmal ist das Gemeinwohl etwas, hinter dem individuelle Interessen zurückstehen müssen.
2 Kommentare
Lach…. das Problem ist doch, dass Politiker gar nicht mehr die Experten sind, die sie sein sollten, sondern dass sie sich die Gesetze von Lobbyisten diktieren lassen und dann mittels Fraktionszwang diese Gesetze verabschiedet werden. Ob das wirklich soviel besser ist, als wenn die Bürger mit Diskutieren und Entscheiden dürfen?
Jedes Argument hat ja auch eine zweite Seite. Mehr Demokratie kann nämlich auch bedeuten, dass sich die Experten, nämlich unsere Politiker, wieder eingehender mit den Themen auseinander setzen müssen, damit sie diese dem Volk erklären können, genauso wie sie dann auch ihren Standpunkt zu diesen Themen besser erklären können müssten. Wenn der Bürger nämlich über wichtige Themen entscheiden darf, hat er ja weiterhin nur eine bestimmte Menge an Alternativen zur Auswahl. Dann müssen die Politiker Argumente finden, damit sich der Bürger für ihre Alternative entscheidet und dadurch könnte die Politik und auch die Gesetze wieder an Qualität gewinnen.
Aber auch im Gesetzfindungsprozess kann der Bürger eine große Rolle spielen. Dadurch, dass er über die Gesetze diskutiert, können Schwachstellen gefunden werden, die dann, noch bevor das Gesetz in Kraft tritt, behoben werden können. Dabei ist es doch auch gar nicht wichtig, dass jeder Bürger ein Experte für jedes Thema ist, sondern dass sich jeder Bürger dort engagieren kann, wo er seine Interessen hat.
Wenn Bürger in den Entstehungsprozess von Gesetzen mehr einbezogen werden, bedeutet das ja noch lange nicht, dass der Bürger auch über jedes Gesetz abstimmen muss. Das Gesetz selbst kann später immer noch durch die Abgeordneten beschlossen oder abgelehnt werden, nur wäre eben der Bürger sehr viel mehr dabei einbezogen und könnte nicht mehr sagen, dass die Politiker eh nur das machen, was die Lobbyisten ihnen vorschreiben.
Ganz so einfach ist das nicht mit den Lobbyisten, hätte ich vor gestern Abend noch am liebsten zurück geschrieben. Dann war ich im Kino, „Bulb Fiction“. Der starke Lobby-Einfluss hat bei mir zu einer Gänsehaut geführt.
Aber bleiben wir beim ursprünglichen Thema. Ich denke, wir beide sind uns einig, dass mehr Transparenz auf jeden Fall richtig ist. Entscheidungen müssen nachvollziehbar sein, Einflüsse offengelegt werden. Zum Glück haben wir in diesem Land eine freie Presse, die einem Teil der Missstände immer wieder auf die Spur kommt.
Mitdiskutieren sollte der Bürger, ja. Aber nicht unmittelbar mitentscheiden.
„Wenn Bürger in den Entstehungsprozess von Gesetzen mehr einbezogen werden, bedeutet das ja noch lange nicht, dass der Bürger auch über jedes Gesetz abstimmen muss.“ – dem kann ich zustimmen.
Schön finde ich in diesem Zusammenhang auch eine Aussage von Joachim Gauck in der aktuellen Ausgabe der ZEIT:
„In einer Welt, in der Menschen gant unterschiedliche Interessen verfolgen und zudem mit Mängeln behaftet sind, kann es einfach keine ideale Gesellschaft geben. Ideal, an denen wir uns ausrichten, könen uns allerdings einen Kraftquelle sein und uns motivieren, von der Haltung des Zuschauers zu der des Gestalters zu wechseln.“
Abgeleitet davon: Politiker sind auch nur Menschen, mit all ihren Schwächen und Stärken.