Am vergangen Wochenende sind zwei 17-jährige Schüler in Tessin (Mecklenburg-Vorpommern) in das Haus eines Ehepaars eingedrungen und haben den 46 Jahre alten Mann und seine fünf Jahre jüngere Frau mit einer erheblichen Anzahl an Messerstichen getötet. Zuvor hatten sie eine 15 Jahre altes Mädchen aus ihrem Bekanntenkreis als Geisel genommen.
Fieberhaft wird jetzt nach einem Motiv gesucht. Ein Motiv, dass uns die Bluttat erklären soll, damit wir wissen, warum die beiden Jugendlichen so etwas schreckliches getan haben. Statt aber an dieser Stelle über ein mögliches Motiv wild zu spekulieren, eine Gegenfrage: Was, wenn es kein Motiv gegeben hat?
Mit einem Motiv versuchen wir gemeinhin, nicht Verständnis für die Täter zu bekommen, sondern wir wollen die Tat begreifen, für uns fassbar machen. Es ist eine Suche nach Erklärungsmuster, um künftig gegen die Tatursachen vorgehen zu können. Waren es drohende Perspektivlosigkeit, die zur Tat geführt hat? Dann könnte in Zukunft das Ausbildungsangebot in Ostdeutschland erweitert werden, damit die Menschen dort wieder Hoffnung haben.
Waren es böse Killerspiele? Die wären dann zu verbieten, damit die Jugend nicht mehr verroht. Im das gleiche Muster. Jede Tat hat ein Motiv, das Motiv eine Ursache und dieser könnte entgegengewirkt werden, wenn sie denn bekannt ist. Noch mal die Frage: Was, wenn es kein Motiv gegeben hat? Wenn sich die Tötung einfach so, ohne Grund und ohne Hintergrund ereignet hat?
Dann stehen wir nicht nur ratlos da, sondern aufs tiefste verängstigt. Nicht nur, weil jeder von uns Opfer sein könnte, so wie es das Ehepaar auch vermutlich zufällig getroffen hat. Unsere Angst speist sich auch aus der Erkenntnis, dass in solchen motivlosen Taten das animalische, unkontrollierbare Wesen des Menschen zum Vorschein kommt. Es durchbricht die gesellschaftlich auferlegten Schranken und wildert unter seinen eigene Artgenossen. Es brauch kein Motiv, es tötet einfach und entzieht sich jeder Erklärung.
Auf BILD-Niveau werden dann solche Täter schnell zu „Bestie” erklärt – dabei wird verkannt, dass in jedem von uns eine Bestie steckt, die nur durch jahrelange mühevolle Erziehung domestiziert wurde.
Was sind die beiden Jugendlichen aus Tessin? Monster, Mörder oder selber Opfer? In erster Linie, so zynisch das auch nach ihrer Tat klingen mag: sie sind in erster Linie Menschen. Bei der strafrechtlichen Seite der momentanen Motivsuche geht es vorrangig darum, ob es Mord oder Totschlag war, was letztendlich Einfluss haben wird auf das Strafmaß. Ein mögliches Motiv führt so zu einem Urteil.
Währendessen besteht aber die Gefahr, dass Vorurteile wie Henkersbeile herunterschnelle und Volkes Meinung über die beiden Täter richtet. „Die stammen aus Ostdeutschland? Na, war doch klar.” „Die haben Killerspiele gespielt? Dann musste es doch so kommen!” Je weniger Fakten bekannt sind, desto mehr wird wild spekuliert. Alles, was dabei nicht ins Bild passt, wird ausgeblendet. Solange uns kein Motiv bekannt ist, basteln wir uns eben selber eins. Zur Not ging es dann nur um das alte, verrostet Auto des getöteten Ehepaars.
Die Suche nach den Motiven sollten wir, Journalisten und Politiker eingeschlossen, den ermittelnden Polizeibeamten überlassen. Bis diese zu einem Ergebnis gekommen sind, sollte wir uns stattdessen Gedanken machen, was es für uns bedeutet, wenn es kein Motiv gegeben hat.
Eine Antwort
Gut gebrüllt, Löwe!
Ich sage dazu mal folgendes…
John Wulgaru