Nach wie vor sorgt Großbritannien für eine Art europäische Magenverstimmung. Die Demokratie hat mittlerweile schlaflose Nächte.
Ein Troll namens Johnson
Als der neue britische Premierminister Boris Johnson ankündigte, den Brexit um jeden Preis anzustreben, hielten nicht wenige das für leeres Geschwätz. „Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird“, dachten viele auf der Insel und auch anderorts in Europa. Leider ist das eine enorme Unterschätzung von dem gewesen, zu dem Johnson fähig zu sein scheint. Der Kerl meint es nämlich tatsächlich ernst. Und um jeden Preis bedeutet für ihn wirklich um jeden Preis. So lange am Ende der Brexit herauskommt, ist ihm der Weg dorthin egal. Selbst wenn es bedeutet, dem Ansehen von Großbritannien als einer der ältesten Demokratien schweren Schaden zu zufügen.
Mit einem Handstreich hat er das britische Parlament mehr oder weniger kaltgestellt. Die gewählten Abgeordneten können nur noch am Spielfeldrand zusehen, wie Johnson das Land lächelnd in den Abgrund treibt. Die Zusammenhänge korrekt nachzuvollziehen, fällt dabei nicht leicht. Als Deutscher fühlt man sich etwas unbedarft in Bezug auf die Besonderheiten in Großbritannien. Was wie ein illegaler Coupe von Boris Johnson klingt, ist de facto völlig legitim – allerdings unüblich. Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich das Ganze als spitzbübischer Geniestreich.
Verfassungsloses Großbritannien
Eine der Besonderheiten von Großbritannien besteht darin, anders als viele anderen Staaten auf dieser Welt keine festgeschrieben Verfassung zu haben. Das politische System des Landes sieht an seiner Spitze ein nicht gewähltes Staatsoberhaupt vor – ein König beziehungsweise Königin. Das Ganze nennt sich konstitutionelle Monarchie. Der Monarch beziehungsweise die Monarchin üben jedoch nahezu nur noch zeremonielle Funktion aus. Großbritannien ist stolz auf seine Tradition. Genau nutzt Johnson zu seinem Vorteil. Der Schlüssel hierbei ist die sogenannte Queen’s Speech. Eine Thronrede der Königin vor Würdenträgern und den Abgeordneten aus Unter- und Oberhaus.
Mit der Thronrede wird jährlich die Sitzungsperiode des britischen Parlaments eröffnet. Inhaltlich liest die Königin dabei nur dass vor, was die jeweilige Regierung ihr vorlegt. Spielraum hat sie hier nicht.
Üblicherweise gibt es eine kurze Sitzungspause, eine Übergangsphase zwischen den Perioden. In der Zeit steht das Parlament still und ist nicht handlungsfähig. Johnson hat Queen Elizabeth dazu überreden können, ihre Rede erst am 14. Oktober zu halten. Dadurch wird dieses Jahr die Sitzungspause erheblich länger.
Auf diese Weise können die Abgeordneten im Unterhaus nicht mehr rechtzeitig gegen die Brexit-Pläne von Johnson vorgehen. Das klingt nicht nur wie ein Horrorszenario für Großbritannien, es ist ein. Die Chance, den No-Deal Brexit noch zu verhindern, stehen denkbar schlecht.