Von allen guten und bösen Geistern verlassen

Ende Februar zeigte sich der Winter zum Abschluss von einer milderen Seite. Knapp über dem Gefrierpunkt ohne Schneefall in Köln. Für die meisten Menschen in der Domstadt versprach der Tag eine ausgelassene Stimmung. Endlich wieder ein Rosenmontag mit Umzug. Dicht gedrängt standen verkleidete Zuschauer am Dom. In mitten der Menge befand sich F. Auch er wollte feiern. Dann kamen sie. Männer mit langen Bärten, schwarzen Mäntel und ebensolchen Hüten. Vor allem die Nasen. Es machte ihm Angst, als er sie auf dem Wagen sah, denn er wusste, auch er war gemeint. Ein kleines Ausflügle. Das Schild am Wagen, „die letzten ziehen ab“ vermittelte ihm das Gefühl, nicht länger erwünscht zu sein. Jemand stieß ihm mit dem Ellenbogen in die Seite. Er blickte fragend in ein lachendes Gesicht.

„Na, bist du nicht auch einer von denen?“
„Ich weiss nicht was du sagst.“

Ob es als Scherz gemeint war oder ernsthaft, wollte er nicht in Erfahrung bringen. Etwas zerbrach in ihm, als er sich noch vor dem Ende des Festzugs abwandte und zwischen den ausgelassen Feiernden verschwand.

 

Rosemontagszug in Köln 1933

Rosemontagszug in Köln 1933

Nach dem Zug ging es in den Kneipen und Brauhäusern weiter. Bis in die späten Abendstunde. Man feierte ohne zu wissen, dass der Reichstag in Flammen stand. F. las es am anderen Morgen in der Kölnischen Volkszeitung. Noch am selben Tag verhafteten sie seinen Nachbarn, einen Sozialdemokraten. Ihn ging das nichts an. Das Schreien der Frau in der Wohnung nebenan versuchte er genauso zu überhören wie das Geräusch von auf den Boden fallenden Möbeln und zersplitterndem Porzellan.

In der folgenden Zeit gelang es ihm weiterhin unerkannt zu bleiben. Gelegentlich schämte er sich, wenn er die Straßenseiten wechselte, um ehemaligen Freunden nicht zu begegnen. Bekanntschaften mied er, auch wenn es Einsamkeit bedeutete. Es war aber genau diese Einsamkeit, die sein Überleben sicherte.
An den Orten und Plätzen, wo er vormals einkaufte, sah man F. nicht mehr. Mit dem Geld, über das er noch verfügte, fand er andere Mittel und Wege. Ansonsten blieb er mehr aus Gewohnheit genau dort, wo er seitdem er denken konnte lebte. In Köln, seiner Heimat, die ihm zunehmend fremd wurde.

Und wieder brannte es. F. hatte, wie es ihm zur Gewohnheit geworden war, in den frühen Morgenstunden einen Spaziergang unternommen. Ohne es geplant zu haben, bog er in die Glockengasse ein. Noch bevor er sie sah, konnte er es riechen. Holz, Papier, Stoff und mehr. Alles, was die Flammen zu Asche werden ließen. In geradezu obszöner Weise leckte das Feuer an den Grundmauern der Synagoge.

Davor auf der Straße lagen der große siebenarmige Leuchter, Gebetsbücher und Thorarollen im Dreck. Teilnahmslos stand ein Polizist daneben, als jemand die heiligen Schriften anzündete. Dann drehte derjenige seinen Kopf und erblickte F.

„Du da. Dich kenne ich. Kehrtest du nicht auch hier ein?“
„Ihr müsst mich verwechseln!“, hörte F. sich sagen.

Hastig verbarg er sich in Mitten der Menge Schaulustiger. Später ging F. heim, vorbei an den eingeschlagenen Schaufensterscheiben jüdischer Geschäfte. Waren häuften sich draußen, über die sich bereits die ersten Plünderer hermachten. Ein einziges Fenster fand er ganz vor. Beschmiert mit einer eindeutigen Botschaft. „Aber hurtig raus!“ Daneben hatte der Maler einen Mann gepinselt. Hut, langer Mantel, die Hakennase. Die ganzen Habseligkeiten mussten sich in dem Sack befinden, den die Figur geschultert hatte.

Nur ein Gepäckstück pro Person. Das Schreiben, welches F. aus dem mit rotem Reichsadler versiegelten Umschlag zog, war eindeutig. In zwei Tagen sollte er sich in der Messehalle melden. Umsiedlung nach Osten, in ein neues Gebiet, nur für Juden, hieß es. Ziel der bevorstehenden Reise würde Litzmannstadt sein.

Gegen Ende des Sommers 1941 begannen die Deportation in Köln. In welche Richtung es gehen würde, ahnte F. bereits seit dem Frühjahr. Den überwiegenden Teil der jüdischen Bevölkerung von Köln brachte man in sogenannten Judenhäusern unter. Anfang Juni traf F. Vorbereitungen, reaktivierte alte Kontakte. Seine neue Adresse kannten nur wenige. Dennoch, einer von ihnen musste F. denunziert haben. Dabei besaß F. nichts mehr von Wert. Er faltete den Brief und steckte ihn in seine Manteltasche. Andererseits bedeutete der Brief ein nicht zu unterschätzendes Glück. Eine Vorwarnung, wo man sonst nicht zimperlich war. Hinter vorgehaltener Hand sprach man von nächtlichen Aktionen der Geheimen Staatspolizei.

So ungern er Köln den Rücken kehrte, so sehr hing F. an seinem Leben. Er würde sich über das rechtsrheinische Deutz ins Bergische Land absetzen. Versteckt auf dem Land, wie ein Kaninchen in seinem Bau.
Der Bahnhof war voller Menschen. Einige trugen mehrere Mäntel übereinander, zogen an Koffern und Kindern. Ein ihm endlos vorkommender Treck Richtung Messehalle. Es bestand keine Notwendigkeit zu fragen, denn er wusste bereits, wer sie waren und wohin sie verschwinden würden.

Menschen mit mattem Blick schoben sich vorbei Richtung Tiefebene des Bahnhofs. Nur einen Moment der Unachtsamkeit und die Masse zog ihn mit. In mitten der Menge wurde F. immer näher an die wartenden Wagons heran geschoben.
„Sie da, was haben sie hier zu suchen? Der Zug ist nur für Juden!“ Ein SS-Posten blaffte F. an.

„Nein ich gehöre nicht dazu.“ F. antwortet mit einem eingeübten Reflex, schüttelte heftig den Kopf.
„Papiere!“

F. zog seinen neuen Pass hervor und reichte ihn herüber. Ein banger Moment des Wartens.

„Verschwinden Sie, dass hier geht Sie nichts an.“

Der Wachmann hatte sich täuschen lassen. Mit der Zunge fühlte F. die beiden Zahnlücken. Die gefälschten Papiere waren ihren Preis wert.

Mit dem nächsten Zug nach Bergisch Gladbach verließ F. endgültig Köln.

Anfang April 1945. Mehrfach hatte F. in den letzten Wochen sein Quartier gewechselt. Die Front rückte beständig näher und er war fest entschlossen, den Krieg zu überleben. Wie man hörte, war Köln bereits gefallen. Die Wehrmacht zog sich ins Rechtsrheinische zurück, mehr auf der Flucht als noch ernsthaft den Alliierten etwas entgegen setzen zu können. Nur durch die Sprengung der Brücken verlor der Vorstoß etwas von seinem Schwung.
Der Kreisleiter von Bergisch Gladbach indes glaubte noch immer an den Endsieg. Für den Volkssturm rekrutierte er sogar 13-jährige, die immer zu zweit mit einer Panzerfaust in den Schanzgräben ausharrten.

F. gelang es, sich unter die Flüchtlinge und verwundeten Soldaten zu mischen. Sie bekamen Unterkunft auf einem der Bauernhöfe. Widerwillig rückte man zusammen, vereint nur in der Angst vor den ständigen Bombenangriffen auf die Eisenbahnlinie Richtung Overath.

Er gab vor sich nützlich zu machen. Hielt das Bein fest, als der alte Landarzt es mit zittrigen Händen einem schwer Verwundeten amputierte. Dort wo sonst die Schweine nach dem Schlachten aufgehängt wurden, roch es jetzt nach menschlichem Blut und Urin.

Nur die Erschöpfung am Ende eines Tages ließ F. auf dem stinkenden Stroh einschlafen und den Hunger vergessen.
Es war noch früh am Morgen, als F. von Schreien geweckt wurde. Er rieb sich die verklebten Augen und versuchte die Quelle des Lärms im Halbdunkel zu erblicken. Ein Junge in HJ-Uniform.

„Die Amerikaner. Die Amerikaner sind hier!“

F. sprang auf, versuchte das Schwindelgefühl zu ignorieren. Hastig drängte er sich vorbei an dem Kind, ließ die anderen in der Scheune hinter sich.Nebenan stand der Schweinestall offen. Drinnen baumelte ein Parteigenosse, der sich an einem Balken erhängt hatte. Erst jetzt wurde es für F. zu Gewissheit, dass der Krieg vorbei war. Als ein amerikanischer Jeep mit Soldaten auf den Hof fuhr, hörte F. den Hahn krähen.

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