Von allen guten und bösen Geistern verlassen

Alice Schwarzer  ist eine bedeutende Person für unsere Gesellschaft. Die eigene Rolle als Vorkämpferin kann aber auch zur Falle werden.

Randnotizen für Feministen

Es ist kompliziert. Morgen wird Alice Schwarzer 80 Jahre alt. Ein runder Geburtstag, zu dem auch in den Mediatheken der öffentlich-rechtlichen einiges zu finden ist. Um aber etwas über Schwarzer zu schreiben, kann ich für den Anfang aus meiner eigenen Biografie schöpfen. Hört sich gerade bei einem Mann vielleicht etwas merkwürdig an, scheint aber so zu sein.

Mit Ausnahme meiner Tante bekam ich durch meine Familie eher das klassische Rollenverständnis vermittelt. Um es mal sehr vorsichtig auszudrücken. Zu meinem großen Glück hat mich das nicht geprägt. Viel entscheidender in meinem Fall wurde die Schule und später die Uni.

Beispielhaft picke ich mir mal drei Frauen heraus, die meinen Lebenslauf und mein Gefühl für Gleichberechtigung maßgeblich beeinflussten. Als erste ist hier meine Klassenlehrerin auf der Realschule in der neunte und zehnten Klasse zu nennen. Geschieden, alleinerziehend, eine sehr starke und beeindruckende Person.

In der Oberstufe hatte ich Religionsunterricht bei einer erklärten Feministin und Anhängerin von Alice Schwarzer. Mich brachte das dazu, das Buch „Der kleine Unterschied und seine großen Folgen“ zu lesen.

Als Mann in einem Studiengang unter überwiegend Frauen fühlte ich mich auch nicht falsch. An der Universität Bielefeld hatte ich dann Vorlesung bei einer Pädagogik-Dozentin, wiederum eine sehr starke Frau.

Glückwunsch für Alice Schwarzer?

In all den Jahren konnte ich Alice Schwarzer durchweg, manchmal vielleicht auch zu schnell und zu kritiklos, zustimmen. Ein Feminist? Gibt es das überhaupt? Unwichtig an dieser Stelle. Hätte Schwarzer während meiner Zeit in Köln eine Demo vor dem Pascha organisiert, ich hätte mit protestiert.

Ihr Standpunkte zum Thema Prostitution sind auch meine. Obwohl — aber da kommen wir gleich zu. Die Kopftuchfrage hätte ich bis gestern Abend genau wie sie beantwortet, wenn auch nicht so lautstark.

Zum Bruch kam es, als Schwarzer in einem offenen Brief an Olaf Scholz mit zahlreichen anderen Unterzeichnern den Stopp der Waffenlieferungen an die Ukraine forderte. Definitiv nicht meine Position, aus vielen Gründe. Mit einer einzigen Handlung kann man mitunter sein Ansehen, sein Lebenswerk beschädigen — das Gefühl hatte ich im Frühjahr und auch heute noch.

Niemand ist unfehlbar. Auch nicht jemand, der das Licht der Aufklärung in Bezug auf die Emanzipation der Frau nach Deutschland brachte. „Die Streitbare“ — Der Titel der Dokumentation ist passend. Eine gute Zusammenstellung, aber auch berechtigte kritische Töne. Was die Freiwilligkeit der Prostitution angeht, bin ich nicht überzeugt und tendiere nach wie vor zur Position von Schwarzer. Allerdings hat Renate Künast in vielen Punkt wirklich recht, wenn es um Sozialversicherungen für Prostituierte geht.

Meinen Standpunkt zum Thema Kopftuch habe ich über Bord geworfen. Emilia Roig hat vollständig Recht. Es ist ein anmaßender, weißer und sehr westlicher Standpunkt.

Ihre Verdienste um die Gleichberechtigung von Mann und Frau kann man Alice Schwarzer nicht nehmen. Auch sie selber nicht. Persönlich schließe ich mich den Glückwünsche ebenso an wie der Hoffnung auf etwas mehr Altersweisheit.

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