Oberstudienrat Georg Träm hatte noch 15 Minuten zu leben. Von dieser Unannehmlichkeit wusste er jedoch nichts. Dies stand im Widerspruch zu seiner sonstigen Besserwisserei.
Mit einer Verspätung von voraussichtlich 15 Minuten sollte der ICE in Bielefeld eintreffen. Genug Zeit, um fasst ein ganzes Leben Revue passieren zulassen. Anders als von Sterbenden erwartet zieht das Leben nicht wie im Film an einem vorbei. Dazu müsste der Beginn dieser letzten Vorstellung bekannt sein. Selbst wenn sich die letzte Sekunde eines Lebens nahezu unendlich ausdehnen ließen, die Vorstellung von einem Film ist falsch. Ein Film wäre chronologisch, würde die ersten Erinnerungen im frischen Leben wiedergeben und dankbar die letzte Moment gnädig aussparen. Der Abspann wär quasi der Exitus, das Ende im wörtlichen Sinne.

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Das was wirklich kurz vor Schluss passiert, gleich einem Aufblitzen von Erinnerungen. Fragmente aus dem Leben, willkürlich und sprunghaft.
Träm hatte an diesem Morgen in Bielefeld den Geruch einer Zeitung in der Nase. Die Druckerschwärze, das raschelnde Papier. Es führte ihn zurück zu dem Tag, als er zum ersten Mal die Frankfurter Rundschau aus dem Briefkasten holte holte. Die Zeitung, welche er zu Beginn seines Lehramtsstudiums abonniert hatte und seitdem treu geblieben war. Für Studierende gab es die FR vergünstigt, sonst hätte sich Träg sie nicht leisten können. Für so was gab es keinen Zuschuss von den Eltern. Er konnte sich noch gut an den angewiderten Gesichtsausdruck seines Vaters erinnern, als er mit der FR außen am Rucksack in den Semersterferien zu Hause vor der Tür stand.