Von allen guten und bösen Geistern verlassen

„Marie-Louis“, komm sofort da runter!“
Die schrille Stimme der Mutter war weit über die Grenzen des Spielplatzes zu hören. Marie-Louis störte das nicht.

Sie kletterte weiter auf dem Baum, der so viel spannender war als die langweiligen Gerüste. Trotzig stampfte die Mutter auf den Boden. Charlotte von Leiwa war sich sicher, dass die Frau gleich völlig die Nerven verlieren würde. Aus der Handtasche fingerte sie ihre Zigarettenschachtel. Nur noch eine über. Immerhin. Charlotte steckte sich die filterlose Zigarette an und inhalierte genussvoll, bevor sie sich zum Gehen wand. Die Aufmerksamkeit der Mutter wollte sie nicht erregen, auch wenn ihr sonst solche Diskussionen Spaß machten. Sie schärften ihre an sich schon spitze Zunge. In ihren über sechzig einundfünfzig Lebensjahren war sie nur ein einziges Mal nicht schlagfertig gewesen. Der Gedanke dran ärgerte sie noch immer. Eine junge Familie mit Kinderwagen kam ihr im Park entgegen. Alleine hätten die Eltern wohl glücklicher ausgesehen.

„Im Wohnzimmer würde sich die Lampe hervorragend machen.“
„Ich weiß nicht.“
„Wie, du weißt nicht? Das alte Ding, was da jetzt hängt, geht auf gar keinen Fall mehr.“
Der Mann zog es vor zu schweigen. Keine gute Idee, dachte Charlotte.
„Jetzt sag doch was.“

Da war es wieder, dieses Gefühl von Zufriedenheit, welches Charlotte erfasste. Verstärkt noch durch ein altes Ehepaar, das Tauben fütternd auf einer Bank saß und dem jungen Paar wehmütig hinterher sah. Ganz bewusst hatte sich Charlotte gegen so ein Leben entschieden. Mann, Kinder, zusammen alt werden. Jeden Morgen neben dem gleichen Menschen im Bett aufwachen, bis man entweder selber gestorben war oder der Partner. Charlotte schnippte die Zigarette weg. Sie hatte immer ihre Freiheit gehabt. Für ihre anderen Bedürfnisse erfüllten Affären den Zweck. Nur kurz mussten sie sein. Schön genug für immer neue Eroberungen war sie immer gewesen. Im Alter glich das Familienvermögen Falten und herabhängendes Gewebe aus. Die Kerle hofften immer darauf, sie zu heiraten. Spekulierten auf Reichtum, bezahlten Müßiggang. Jedes Mal war es eine Freude für Charlotte, wenn sie die Männer wieder von der Bettkante stieß. Nur einmal – das Telefon in ihrer Tasche unterbrach den trüben Gedanken.

Ein Anruf aus der Redaktion. Das sie für das Blatt die Theaterkritiken schrieb, tat sie nur aus reinem Zeitvertreib. Zudem zog sie auch noch einen praktischen Nutzen aus dieser Tätigkeit. Aufstrebende Schauspieler waren für eine gute Kritik zu fast allem bereit, wie sie aus Erfahrung wusste. Mit nur einem lapidar hingeworfenem Nebensatz konnte Charlotte Karrieren beenden, bevor diese überhaupt begonnen hatten. Umgekehrt reichte ein gutes Wort von ihr aus, um selbst jemanden ohne Talent in den Olymp zu heben.

Man bat sie, über den Gastauftritt von Carl Arnsburg heute Abend zu berichten. Ausgerechnet Arnsburg. Da war er wieder, der Gedanke von vorher. Mit dem Zeigefinger tippte sich Charlotte mehrmals auf die Nase. Es half ihr beim denken. Für heute Abend brauchte sie einen Schlachtplan. Die Karte für die Aufführung bekäme sie selbstverständlich von der Redaktion.

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