Von allen guten und bösen Geistern verlassen

Für mich war es das ungewöhnlichste Buch, welches ich in den letzten Monaten gelesen habe. Gleich vorweg auch meine persönliche Antwort auf die Frage, worum es sich hier handelt. Ja, in jedem Fall Literatur. Der Autor von „Kastelau“, Charles Lewinsky, kann schreiben. Verdammt gut schrieben und dabei eine komplexe und unterhaltsame Handlung so aufbauen, dass man das Buch erst wieder aus der Hand legt, wenn man es zu Ende gelesen hat. Und ja, Kastelau ist anspruchsvoll, mutet dem Leser etwas zu.

Die Handlung, laut dem dtv-Verlag:

Während 1944 in Berlin der Krieg wütet, geht es in den bayerischen Alpen noch friedlich zu. Unter einem Vorwand beschafft sich der Filmstar Walter Arnold den Auftrag für einen vorgeblichen Propagandafilm und setzt sich mit einem UFA-Team dorthin ab.

Im Prinzip ja, aber eigentlich genau so am Kern vorbei wie die Stichwörter „Ein Bergdorf, ein Filmteam, ein Ziel: überleben“.

Hans / Pixabay

Es stimmt, im Buch wird von einem Filmteam 1944 in Kastelau der Film „Lied der Freiheit“ gedreht. Die eigentliche Handlung aber beginnt in der Gegenwart, die Polizei auf dem Hollywood Boulevard einen Mann anschießt, der mit einer Spitzhacke unterwegs war. Dieser Mann, Samuel A. Saunders, verstirbt kurze Zeit später im Krankenhaus. Mit der Spitzhacke, so stellt sich heraus, hat er den Stern eines gewissen Arnie Walton auf dem „Walk of Fame“ zerstört.

Im Nachlass von Saunders befinden sich verschiedene. Dokumente. Unter anderem sein Manuskript, welches ursprünglich mal seine Doktorarbeit werden sollte, ein Tagebuch so wie Auszüge aus einem Interview.

In Deutschland traf sich Saunders für seine Doktorarbeit mit einer ehemaligen Schauspielerin, da er über Filme aus der NS-Zeit promovieren wollte, die gegen Kriegsende nicht mehr fertiggestellt wurden. Eine dieser verschollenen Filme war jenes „Lied der Freiheit“. Stück für Stück tastet sich Saunders an die Wahrheit heran, welche sein ganzes Leben ruinieren wird.

Dem Leser werden wechselnde Erzählperspektiven präsentiert, Fragmente aus dem Tagebuch des Drehbuchschreibers Werner Wagenknecht, der auf Grund eines Berufsverbots durch die Nazis unter dem Pseudonym „Frank Ehrenfels“ den Durchhaltefilm „Lied der Freiheit“ verfasst.

Mir gefällt an Kastelau die Zersplitterung in die einzelnen Perspektiven, die Sprünge in den Zeitebenen. Man unterliegt wirklich der Illusion, alles hätte sich so zugetragen. Nebenbei bekommt man einen intensiven Eindruck der letzten Monate vor Kriegsende und sieht (mal wieder), wie viel Überlebenswillen in geborenen Opportunisten steckt. Wer über genügend Einbildungskraft verfügt als Leser, wie den Schnee und die Kälte ebenso spüren wie das Gefühl, in einem kleinen Dorf eingeschlossen zu sein und weiter spielen zu müssen, auch wenn das Filmmaterial schon längst aufgebraucht ist.

In jedem Fall wirkt der Roman noch nach. Über die letzte Seite hinaus beschäftigt einen die Handlung und führt zu Fragen an sich selber. Welche Biographie würde man sich schreiben, wenn man es könnte?

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