Mich beschleicht das bittere Gefühl, in den letzten anderthalb Jahren mehr Nachrufe schrieben zu haben als die ganze Zeit davor. Bitter ist das Gefühl in zweierlei Hinsicht. Es sind die Großen, die von uns gegangen sind. Menschen, die zumindest mein Leben auf die eine oder andere Weise geprägt haben. Weil ich ihren Positionen und Ansichten nahestand, weil sie mir neue Pfade aufzeigten oder aber weil ich das wofür sie standen, ablehnte — mich aber mit den Thesen auseinandersetzen musste.
Gleichzeitig weckt jeder Nachruf bei mir die ureigenste Angst vor der eigenen Sterblichkeit. Was in der Jugend und mit Mitte zwanzig noch weit entfernt war, rückt näher. Besonders dann, wenn der Altersunterschied zu dem Verstorbenen spürbar klein ist. Von Guido Westerwelle trennen mich nur gerade mal neun Jahre. Das ist nicht viel. Mit gerade einmal 54 Jahren zu sterben, ist zu früh. Dabei bin ich mir unsicher, ob es für den Betroffenen „angenehmer“ ist, bei einem Verkehrsunfall schlagartig ums Leben zu kommen, oder dem Tod über längere Zeit ins Antlitz zu blicken. So war es bei Guido Westerwelle, dem es nach einer Stammzellentherapie zur Behandlung seiner Leukämie seit Anfang des Jahres immer schlechter ging.
Guido Westerwelle. Wer war er und wer war er wirklich? Der Nachruf in der Süddeutsche Zeitung heute auf Seite drei hatte eine wie ich finde treffen Einleitung:
Er war für viele Menschen eine Provokation. Bewegt hat er sie, als er, todkrank, für ein zweites Leben kämpfte.
Quelle: SZ, „Die Seite Drei“, 19.03.2016
Bevor ich von seiner Erkrankung erfuhr, war der Ex-Bundesaußenminister und EX-FDP Vorsitzender für mich so was wie ein rotes Tuch. Er stand für eine neoliberale Weltsicht, die nicht Teile. Für eine Art der Show- und Talkshowpolitik, die mich abstößt. Während seiner aktiven Zeit als Politiker gab es nur eine Sache, die ich großartig, ja bewundernswert an Guido Westerwelle fand. Er bekannte sich zu seiner Homosexualität, als Außenminister. Lud öffentlich zu Empfängen zusammen mit seinem Mann ein. Ja, ich war ein Stück stolz darauf, in einem Land leben zu dürfen, dass einen schwulen Außenminister hat.
Andere Menschen in genau diesem Land sahen es leider anders. Menschen, für die man sich zutiefst schämen kann.
Nachlesen kann man die biographischen Stadtion von Westerwelle derzeit überall. Kindheit und Jugend. Sein Eintritt in die FDP mit 18 Jahren. Der Aufstieg in der FDP mitsamt seinem Projekt 18. So viel Prozent wollte er mit der FDP bei der Bundestagswahl 2009 erreichen. Es wurde 14,9 Prozent, immer noch ein beachtliches Ergebnis, für das Westerwelle vor der Wahl scheinbar unermüdlich im Einsatz war. Unterwegs in seinem Guidomobil.
Als Außenminister wurde er zum Gespött, dann verlor er den Vorsitz der FDP an einen sehr blassen Nachfolger. Bei der nächsten Bundestagswahl war dann alles vorbei. Für ihn und auch für die FDP, die in ein tiefes Loch stürzte. Wie der Niedergang für ihn wirklich gewesen ist, kann man als Unbeteiligte kaum nachvollziehen. Dann wenn man noch Pläne hat, mit der Diagnose „myeloische Leukämie“ fertig zu werden ist verdammt schwer. Es ist ein Kampf, den Westerwelle jetzt leider verloren hat. Das größte Geschenk am Ende gab ihm sein Mann. So heisst es in der Zeitung:
Michael Mronz war bei ihm, als er starb.
Quelle: SZ, „Die Seite Drei“, 19.03.2016
So viel wünscht man sich auch mit Blick auf den eigenen Tod. Nicht allein sterben zu müssen, dass jemand einem die Hand hält, wenn man den letzten, schwersten Schritt tut. Wenn es dann noch jemand ist, den man liebt, fällt es möglicherweise ein kleines Stück leichter. Das hoffen wir alle.