Von allen guten und bösen Geistern verlassen

Meine erste Erringung an Helmut Schmidt geht weit zurück, ich war Grundschüler in der dritten Klasse. Mit Mitschülern traf ich mich vor der evangelischen am Lauerhaas. Auf einem Fahrrad kam ein anderer Mitschüler dazu, an seinem Fahrradgepäckträger hatte er eine Fahne der SPD. Vermutlich war es zur Zeit eines Wahlkampfes, geschätzt der im Oktober 1980. Ich war neun Jahre alt, politisch gesehen und unbeschriebenes Blatt. Oder anders ausgedrückt: Thomas Boley, du weißt gar nichts.

Was wir taten, als Kinder, war falsch. Und ich stand nur dabei, als Mitschüler die Fahne vom Fahrrad rissen. Als der Wortführer lautstark erklärt, was „SPD“ eigentlich bedeuten würde: Schmidt pisst daneben.

bleztseng / Pixabay

Wie gesagt, ich wusste gar nichts. Politisch sozialisiert wurde ich zunächst über zwei Kanäle. Durch den Unterricht in der Schule ab der fünften Klasse und durch meinen Vater. Die Richtung zeigte sich auch bald. Mein Herz schlug und schlägt immer noch links. Daran konnte auch die Agendapolitik von Gerhard Schröder etwas ändern.

Gerhard Schröder. Auch einer der Vielen, die versuchten in die Fußstapfen von Helmut Schmidt zu treten, ohne jemals sein Format zu erreichen. Helmut Schmidt habe ich persönlich nie getroffen, aber ich habe die Wellen, die er auslöste, aufgenommen. Seine Texte, Interviews, seine Auftritte im Fernsehen. Geprägt im Sinne eines Vorbildes hat er mich nicht. Aber beeindruckt, auf jeden Fall. Wobei ich ihn erst so richtig wahrgenommen habe, als er bereits kein Bundeskanzler mehr war. Sondern „lediglich“ Elder Statesman.

Die Rolle des Mahners, des klugen, kantigen Geistes schien im gefallen zu haben. Selbst so was wie ein Rauchverbot auf dem Parteitag der SPD galt für ihn, den Kettenraucher, nicht.

Gestern verstarb Schmidt. Im einem Alter von 96 Jahren. Viel ist in den letzten Stunden über ihn geschrieben worden. Einiges sogar, was ich bis dahin nicht wusste. Fehlen wird er seiner Partei, die während seiner politisch aktiven Zeit immer ihre Schwierigkeiten mit ihm hatte, genau so wie vielen anderen Menschen in Deutschland. Und einer davon bin ich.

Trauer aber ist in seinem Fall ein Begriff, der nur unzureichend beschreibt. Mit 96 Jahren darf man auch schon mal sterben, loslassen. Am Wochenende, als die ersten Meldungen über den sich dramatisch verschlechternden Gesundheitszustand von Helmut Schmidt durchs Netz ging, las ich eine Überschrift, die es auf den Punkt brachte: „Er kann und will nicht mehr“. Für mich ein Signal, dass Schmidt diesmal wirklich sterben würden. Wenn der Lebenswille verschwunden ist, fehlt bei ihm etwas, was ihn zuvor offensichtlich trotz aller Krankheiten zusammengehalten hat.

Traurig macht mich der Tod von Helmut Schmidt dennoch. Trösten kann ich mich mit der Vorstellung, er sei jetzt irgendwo, bei seiner Loki. Wenn es dann in ein paar Wochen schneit, ist auch immer etwas Asche von seiner Zigarette dabei, die runter fällt, wenn er oben von einer Wolke auf uns herab schaut.

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