In den letzten Wochen habe ich zwei Bücher parallel gelesen. Eigentlich mach ich so was nur ungern, aber die Umstände erforderten es. Viel zu lange lag „In einer Person“ von John Irving schon bei mir auf dem Lesestapel. Mittlerweile erschien bereits die Taschenbuchausgabe, ohne das ich die erste Seite gelesen hatte. Die insgesamt 736 Seiten Hardcover wollte ich jedoch nicht auf meiner Pendel-Strecke mit ins Büro nehmen. Auch ohne zusätzlichen Ballast ist mir die Tasche zu schwer, ein Grund, warum ich eine E-Book Reader den Vorzug gegeben habe. Bücher von John Irving aber muss ich gedruckt im Regal stehen haben, ich kann einfach nicht anders.
Aber ich schweife etwas ab. Zeitgleich fing ich an, unterwegs im Zug „Allein unter Deutschen“ von Tuvia Tenenbom, ein israelisch-amerikanischer Autor, zu lesen. Beide Bücher verbindet, dass sie zum Nachdenken über Toleranz anregen. Bei Irving geht es um Bisexualität und Homosexualität (für Irving ist es aus familiären Gründen ein sehr persönliches Buch geworden), bei Tenenbom darum, wie er bei einer mehrmonatigen Reise durch Deutschland subjektiv unterschiedliche Deutsche wahrnahm.
Von Norden bis Süden, von West nach Ost fuhr Tenenbom quer durch die Republik. Sprach dabei mit Politikern, Journalisten, Managern, türkischen Mitbürgern und vielen mehr. Auch mit ganz „normal-durschnittlichen“ Menschen in diesem Land. Herausgekommen ist keine wissenschaftliche Studie, sondern eine Momentaufnahme. Die große Kunst von Tenenbom (mir war er bekannt durch seine Kolumne „Fett wie ein Turnschuh“) ist es, wie er immer wieder in unterschiedlichen Rollen schlüpfen kann, um durch eine vertrauensvolle Atmosphäre Offenheit bei seinen Gesprächspartner entstehen zu lassen. Eine Offenheit, die nicht nur Tenenbom vielfach ratlos zurück lässt, sondern auch die Leserinnen und Leser. Hartnäckig hinterfragt Tenenbom Aussagen, und demaskiert auf diese Weise die Menschen, welche sich üblicherweise hinter Allgemeinplätzen verstecken.
Nein, es sind nicht nur die bekannten Nazis und rechten Gruppierungen, die antisemitisch sind. Das Gedankengut zieht tief durch die deutsche Gesellschaft. Gradmesser für Tenenbom ist dabei unter anderem, wie seine Gesprächspartner über den Konflikt zwischen Palästinensern und Israelis denken (und reden). Viel zu oft fällt dann der Vergleich, dass die Israelis doch im Grunde genommen das Gleiche mit den Palästinensern machen würden, was die Deutschen mit den Juden getan hätten — ein unsagbarer Vergleich gerade aus dem Mund eines Deutschen. Kaum einer weiss jedoch, wie es wirklich in Israel aussieht. Wie viel Angst dort herrscht, wenn eine Mutter nicht mal sicher sein kann, ob ihr Sohn abends nach Hause kommt oder von einer Bombe zerfetzt wurde.
Im Buch stösst man auch auf Menschen, die zu bequem sind selber zu denken. Menschen, die sich der Meinung einer Gruppe anschließen, Menschen, die sich gerne leiten lassen und wenn es schief geht, jemanden suchen, den sie verantwortlichen machen können.
Schlimm sind auch die Gutmenschen und Linken, die sich in falscher verstandener Toleranz üben. Die einfach nachplappern, Islam würde übersetzt „Friede“ bedeuteten — Tenenbom, der arabische Sprache beherrscht, führt dann an, dass Islam tatsächlich „Unterwerfung“ bedeuten würden. Nicht ihm erscheint es merkwürdig, dass eine leidenschaftliche Frauenrechtlerin eine muslimische Organisation unterstützt, die diametral entgegengesetzt Bild von Frauen hat.
Auch wenn es immer wieder von Politikern, Medienvertretern oder Stammtisch-Mitgliedern heisst, wir hätten mit der Vergangenheit längst abgeschlossen, so ist dem nicht so. Unter Oberfläche lauert immer noch der deutsche Antisemit mit seinem Lieblingssatz „Ich mag die Juden, aber…“
Wenn ich an einen Reisebericht denke, der mir vor ca. 1 1/2 Jahren mündlich zugetragen wurde, komme ich leider zu einem ähnlichen Fazit wie Tuvia Tenenbom. Wir sind so überzeugt von uns, dass wie alles und jeden mit unseren Maßstäben beurteilen. Wie anders ist als wie, den schätzen wir geringer. Gerne belehren wir ihn auch. Andere Kultur(en) schätzen wir nur im Theater oder der Oper.
Das Spiegelbild, was Tuvia Tenenbom uns vorhält, hat mich ziemlich erschreckt. Gerade auch die Passagen, wo man unerwartet auf Unvermögen zur Reflexion trifft. So wie beim Kölner WDR, welcher Platz zur Lagerung der Befestigungssteine für die „Klagemauer“ zur Verfügung stellt. Das es sich bei dieser so genannten Klagemauer um ein Projekt mit deutlich antisemitischen Zügen handelt, hat sich längst über Köln hinaus herumgesprochen.
Lesen sollte man „Allein unter Deutschen“ unbedingt. Ja, es sollte meiner Meinung nach auch in Schulen Unterrichtsstoff sein.