Das Wochenende habe ich nicht nur wandernd verbracht, sondern mich auch von Nachrichten fern gehalten. Gelesen habe, aber Prosa. Gerade wenn sich der Kopf zunehmen mit Gedanken vollstopft, die ich unmöglich alle weiter denken kann, hilft so was — in Kombination.
Die Sendung „Das Flüchtlingsdrama: Was ist unsere Pflicht?“ gestern Abend in der ARD habe ich verpasst. Erst in der Nachlese erfuhr ich davon. Von dem Wortgefecht zwischen Heribert Prantl und Roger Köppel. Und von der Schweigeminute, zu welcher der Aktivist Harald Höppner mitten in der Sendung aufrief, sich mit Hilfe des Publikums Jauch widersetzte, dem so viel Gedenken zunächst zu viel war.
Anlass für die Sendung war der Tod von 700 (manche Quellen berichten von 900) Menschen am Wochenende im Mittelmeer. Qualvoll ertrunken, weil das voll beladenen altersschwache Schiff sie nicht mehr tragen konnte. Ertrunken, weil sie geglaubt und gehofft haben, in Europa ein Leben führen zu können. Eine Existenz, die ihnen in ihrer Heimat verwehrt war. Jetzt sind sie genau so tot wie die 400 Flüchtlinge Anfang letzter Woche.
Während ich diese Zeile hier schreibe, ist erneut ein Schiff mit Flüchtlingen im Mittelmeer in Seenot geraten. 300 Menschenleben sind in Gefahr. Es wird, solange keine Lösung gefunden wird, nicht das letzte Mal sein. Die Grenzen sind dicht, nennenswerte Hilfe steht nicht zur Verfügung. Wir sitzen bequem in unserer Burg, genießen das erste Spaghetti-Eis mit spanischen Erdbeeren, die von zum Teil von Flüchtlingen geerntet werden, die es irgendwie aufs europäische Festland geschafft haben.
Sven hat drüben in seinem Blog zwei sehr lesenswerte Texte zum Thema geschrieben, „Vierhundert versunkene Träume“ und „Jamila“. Es gibt auch von meiner Seite ein paar Gedanken dazu. Dinge, die mir den Kopf so vollstopfen, dass er zu platzen droht. Die wieder den Wunsch stärker werden lassen, einfach alles stehen und liegen zu lassen, raus zu gehen, zu wandern bis ich vor Erschöpfung an nichts anderes mehr denken kann.
Ja, es ist eine Art Davonlaufen. Davonlaufen auch vor dem, was sich in mir selber streitet.
Punkt eins: Ich bin kein Unmensch, jedes Menschenleben ist gleich wert. Länder und Grenzen dürfen kein Hindernis sein, wenn es um Menschlichkeit geht, die diese Bezeichnung auch verdient. Der Tod von so vielen Menschen auf offener See lässt mich nicht kalt. Er berührt mich, er lässt mich aber auch hilflos zurück. Ich bin kein Mensch wie Harald Höppner, der sich ein Schiff schnappt, raus fährt und Leben rettet.
Punkt zwei: Meiner seit Jahren immer wieder geäußerten Forderung möchte ich an dieser Stelle noch mal Nachruck verleihen:
Deutschland soll und muss Einwanderungsland werden — mit allen sich daraus ergebenden Möglichkeiten sowie Konsequenzen
Als Gesellschaft müssen wir helfen, in dem wir andere aufnehme. Das Heikle daran ist, dass ein Einwanderungsland immer auch bedeutet, den Zustrom zu regulieren. Und da wird es, siehe Punkt eins, auch bitter. Wir haben noch genügen Platz in unserem Land, aber eben nicht unendlich viel. Wenn wir aufnehmen, wählen wir aus, wen wir aufnehmen – und das ist, verwenden wir hier bewusst das hässliche Wort dafür, Selektion. Jeder, der anderes behauptet, verweigert sich der Realität. Hoffnungslos linke Romantik können wir uns nicht leisten. Eine Gesellschaft muss immer noch in ihrem Grundsatz funktionieren können. Das Boot ist nicht voll, aber es wird irgendwann voll sein, und dann wird es immer noch Menschen geben, die dringend unserer Hilfe bedürfen.
Punkt drei: Insbesondere die europäischen Länder mit ihrer Vergangenheit als Kolonialmächte stehen in besondere Verantwortung für den gesamten afrikanischen Kontinent. Ein verdammt großer Teil aller vergangenen, derzeitigen und künftigen Konflikte hat seine Wurzeln in den Wurzeln in den Sünden unser Vorfahren. Ausbeutung, Unterdrückung, Sklaverei und willkürlich gezogene Grenzen.
Punkt vier: Das was derzeit im Mittelmeer passiert ist kein Drama, kein Bühnenstück mit verhängnisvollem Ausgang. Es ist die Wirklichkeit. Wobei, wenn man wie die meisten von uns einfach nur zusieht, wie im Meer hunderte von Menschen ertrinken verwischen tatsächlich die Grenzen.
Ich habe weder eine Patenlösung, nicht mal ansatzweise eine Idee. Nicht mal Platz genug um einen Flüchtling aufzunehmen habe ich. Nur meine Trauer, Hilflosigkeit und Wut kann ich teilen — wenn wir alle aber genügend Wut sammeln, baut das vielleicht genügend Druck auf die politischen Verantwortungsträger auf. Als Einzelner kann man aktiv werden wie Harald Höppner, es ist aber keine Vorlage für uns alle, aus unterschiedlichen Gründen. Es muss unsere Gesellschaft als Ganzes eine Lösung finden, damit keine weiteren Flüchtlinge mehr im Mittelmeer sterben und ihnen gleichzeitig ermöglicht wird, einen menschenwürdiges Leben zu leben.
Nachtrag: Lediglich nach der Bundesregierung zu rufen und zu fordern, sie möge doch bitte verhindern, dass keiner mehr ertrinkt (und wir zumindest nichts mehr davon mitbekommen) ist vielleicht zu wenig.