Zu den Dingen, die ich im Deutschunterricht gehasst, wirklich gehasst habe, gehörte die Interpretation von Lyrik und Prosa. „Was will uns der Autor damit sagen“ ist eine jener Fragen, die auch heute noch zu einem Reizgefühl im Hals führen. Ganz anders sieht es bei Artikeln in der Zeitung oder bei so genannten wissenschaftlichen Studien aus. Richtig groß ist das Fragezeichen, wenn man sich weder den Sinn hinter einem Artikel noch der Studie, über die im Artikel Bericht wird, erklären kann. Mir ging es jedenfalls heute morgen genau so.
Unter „Träumen macht träge“ berichtete Burkhard Strassmann im Kölner Stadt-Anzeiger über das Buch „Rethinking Positive Thinking: Inside the New Science of Motivation“ von Gabriele Oettingen. Die Psychologin will herausgefunden haben, dass Träume der sichere Weg sind, eigene Ziele nicht zu erreichen. Gemeint sind dabei nicht die nächtlichen Träume, auf die wir wenig bis gar keinen Einfluss haben, sondern die Tagträume. Vorstellungskraft und Fantasie würden uns daran hindern, erfolgreich zu sein. Es nähme uns die Kraft und verhindere, dass wir die Ziele auch tatsächlich ins Auge fassen.
Träume sind Opium des Volkes
Nehmen wir für einen kurzen Moment an, das Behauptete wäre nicht völliger Blödsinn, sondern ließe sich wirklich wissenschaftlich evaluieren — wozu ein bisschen mehr Forschung schon notwendig wäre. Die Aussage, die auch Strassmann in seinem Artikel erwähnt wäre dann die: „positive Zukunftsfantasien verhindern den Erfolg“. Bevor man voreilige Schlüsse zieht, müsste selbstverständlich bewiesen werden, um wie viel besser Pessimisten auch ihre Haltung aufgestellt sind. Gleichzeitig müssten auch ein Blick darauf geworfen werden, welche gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen positive Zukunftsfantasien haben. Es ist durchaus vorstellbar, dass die nun verdammten positive Zukunftsfantasien nicht nur den einzelnen Menschen glücklicher machen, sondern auch innerhalb der Gesellschaft für eine größere Zufriedenheit führen. Wer sich die Welt in bunten Farben malen kann, blendet die triste Realität aus.
In einem Interview mit theguardian vertrat Oettingen den Standpunkt, Tagträumerei könne zwar in Ordnung, aber nur solange sie der Realisierung der Träume nicht im Weg stehe, wir uns also selber vorgaukeln, die Träume bereits erreicht zu haben. Wirklich neu ist so ein Vorwurf nicht, denn die meisten von uns werden sich daran erinnern, dass „Tragträumer“ auch in unserer Kindheit keine positive Bezeichnung war.
Auf den Trost, den Tagträumereien spenden können, möchte ich für meinen Teil nicht verzichten. Und weiss mich da in Gesellschaft. Unsere Zukunftsfantasien mögen vielleicht Erfolg in gewisser Weise verhindern, gleichzeitig sind sie jedoch ein notwendiges Ventil für Unzufriedenheit. Würde man das, was Oettingen vorschwebt, nämlich der weitergehende Verzicht auf Tagträumer beziehungsweise wenn dann nur in einer Form, wo man den positiven Gedanken immer auch die negativen Gedanken zur Seite stellt, umsetzen, dann würde unsere Welt weniger bunt werden. Fest umschlossen von der grauen Realität würden wird traumlos durchs Leben wanken.
Erfolg ist nicht alles, mag man da ausrufen.