Vor zwei Jahren wurde über Facebook dazu aufgerufen, in Niedersachsen eine Polizeistation zu stürmen, einen inhaftierten Mann zu ergreifen und zu lynchen. Er stand im Verdacht, ein Mädchen vergewaltigt und getötet zu haben. Erst später stellte sich seien Unschuld heraus — zum Glück konnte die Polizei den Mob rechtzeitig bremsen.
Soziale Medien sind zum Teil Segen, zum Teil aber auch Fluch. Sie können einer bereits vorhandenen Grundstimmung Auftrieb verschaffen. Man kann sich gegen TTIP organisieren oder aber das Produkt eines Herstellers zu niedermachen, dass dessen Aktienkurs einbricht. Sowohl das neue iPhone 6 als auch das 6 plus, so hieß es Anfang der Woche, sollen sich mit Leichtigkeit verbiegen lassen. Bendgate war geboren. Dazu bei Youtube ein Video, welches über 2 Millionen Mal aufgerufen wurde. Erst später stellte es sich als eine Fälschung heraus. Da war der Schade bereits entstanden. In einer Stellungnahme zeigte Apple, wie neue Geräte getestet wurde und sprach von genau neun Reklamationen. Neun iPhones, die verbogen waren bei einem Absatz von 10 Millionen. Das ist eine Fehlerquote von 0,00009 Prozent. Man muss sich das mal vorstellen und auf andere Branchen und Produkte übertragen. Wäre die Reaktion Maßstab, würden reihenweise Hersteller in Deutschland Konkurs anmelden müssen.
Viel schlimmer jedoch ist eine weitere Meldung, die diese Woche zur Schlagzeile im Kölner Stadt-Anzeiger wurde. Ein neun Jahre altes Mädchen wurde von einem unbekannten Mann in Köln-Hahnewald angesprochen. Der Mann in einem dunklen Wagen, so hieß es, soll dem Mädchen angeboten haben, es nach Hause zu fahren. Wenig später gab es einen ähnlichen Bericht aus Rodenkirchen. Besorgte Eltern organisierten sich über Facebook, an Schulen wurden Kinder gewarnt — sogar Fotos von Verdächtigen wurden gemacht.
Heute konnte man dann im KSTA lesen, was tatsächlich passiert war. Die beiden Mädchen haben sich die ganze Geschichte nur ausgedacht. Die Dynamik, die dann entstand, wirkt nicht nur bedrohlich, sie ist es auch — ganz unabhängig von dem Schaden, den solchen Lügen zusätzlich anrichten. Der Mensch neigt dazu, irrational zu reagieren, wenn er Angst hat. Auch aus diesem Grund liegt Gewaltmonopol und Gesetzgebung in staatlicher Hand.
Der moderne Mensch, insbesondere der internetaffine Großstädter, hält sich für aufgeklärt. Es bedarf jedoch nur wenig, um ihn dazu zu bringen, nachts mit Heugabel und Fackel vor dem Haus eines Mitbürgers zu stehen und nach sofortiger Gerechtigkeit, spricht Lynchmord, zu rufen. Bei aller Begeisterung für das digitale stelle sich daher die Frage, ob soziale Netzwerke nicht auch zu gefährlichen Brandbeschleunigern werden können. Nicht die Technik als solches, sondern unser ureigenstes Verhalten kombiniert mit der rasanten Verbreitungsgeschwindigkeit und -möglichkeit.
Ein verantwortungsvoller Umgang sowohl miteinander, offline wie online, so wie eine reflektierte Nutzung soziale Netzwerke sollte auf unserer Agenda stehen. Nicht nur Kinder und Jugendliche brauche Anleitung zum Umgang mit Facebook & Co, sondern auch die Erwachsenen, die Eltern.