Von allen guten und bösen Geistern verlassen

Warum eine bereits namentlich genannte Nebenfigur nicht plötzlich der geheimnisvolle Unbekannte sein kann

Bei der Arbeit an meinem aktuellen Krimi liege ich etwas zurück, wobei etwas eigentlich untertrieben ist. Wie dem auch sei, um wieder in die bereits geschriebene Handlung hinein zu finden machte ich das, was ich normalerweise bei ersten Entwurf vermeide: bereits Geschriebenes lesen. Dabei stolpert man immer über kleine und große Fehler. Es gibt sicher Autoren, zu deren täglich Routine es gehört, vor Beginn ihrer täglichen Schreibphase sich das noch mal durchzulesen, was sie im Tag zuvor geschrieben haben. Meine Sache ist das nicht. Auf Grund meiner Szenenplanung und meines Stufendiagramms weiß ich in der Regel ganz genau wo ich, beziehungsweise die Figuren stehen.

Wie dem auch sei, ich war mir jedenfalls unsicher über den momentanen Stand der Dinge. In einer halbfertigen Szene gibt es zwei Figuren, die namentlich nicht genannt werden. Sie planen etwas gegen eine andere, handlungsrelevante Figur. Leider habe ich es in der Vergangenheit versäumt, konsequent in Scrivener Schlüsselwörter zu verwenden, so dass ich mir selber nicht mehr ganz sicher war, um wen es sich bei den beiden Figuren handelt — ein Fauxpas, welchem einem Autor eigentlich nicht unterlaufen sollte. Es reichte demnach nicht, nur die aktuelle Szene zu lesen, sondern weiteres zurückblättern war erforderlich. Etwas später wurde mir dann wieder klar, was ich mir bei der Szene gedacht hatte. Vor allem aber auch, wen ich als Figuren für die Szene vorgesehen hatte.

Interessanterweise stieß ich dabei auf ein Problem in der Spannungsliteratur, welches ich als „Figuren im Schatten“ bezeichnen möchte. Stellen wir uns der Einfachheit eine Szene vor, in der etwas plotrelevantes passiert. Der Leser soll aus Gründen der Spannungssteigerung jedoch nicht erfahren, wer sich da gegen eine andere (Haupt-)Figur verschwört, einen Mord begeht oder das Salamibrötchen vom Pult mopst, während die Lehrerin gerade etwas an die Tafel schreibt. Also wird tunlichst vermieden, einen Namen fallen zu lassen.

Das Ganze lässt sich dabei aber gründlich ruinieren. In der einfachsten Variante dadurch, dass der Figur im Schatten etwas anhaftet, was dem Leser eine sofortige Identifikation ermöglicht. Wenn wir beim Salamibrötchen bleiben: „Unbeobachtet griff eine in einem schwarzen Lederhandschuh steckende Hand nach dem Pausenfrühstück.“ Ein paar Seiten zuvor erfuhr der Leser, dass Tim selbst bei über 18 Grad Außentemperatur schwarze Lederhandschuhe trägt (vielleicht weil er Motorradfahrer ist). Die Spannung ist hier genauso ruiniert wie das geplante zweite Frühstück der Lehrerin.

Deutlich schwieriger, dafür aber im Nachhinein wesentlich ärgerlicher wird es, wenn kein Detail auftaucht, welches der Leser sofort mit Tim verbindet, dafür aber folgendes passiert:

SZENE I: Wie jeden Sonntag außerhalb der Schulferien,schob Tim Veganow die Hausarbeiten vor sich her. Es wurde Mittag, dann Nachmittag. Schließlich Abend und Zeit für ihn, ins Bett zu gehen. Erneut schaffte es Tim sich selber etwas vorzumachen in dem er sich fest vornahm, am Montag früher aufzustehen, um vor der Schule Zeit zu haben, die Hausaufgaben zu machen. […]

SZENE II: Verlassen lag der Schulhof in der Morgensonne. Eine leere Milchtüte lag zwischen den Fahrradständern, in dem kein Platz mehr für das Rad des Zuspätkommenden mehr war. Es war der Moment, in dem sein Entschluss, am heutigen Tag ein Salamibrötchen zu stehlen, fiel.

In der gesamten 2. Szene wird Tim namentlich nicht erwähnt. Der Leser weiß daher nicht, wer den skandalösen Diebstahl plante. Stellt sich in einem der dann folgenden Kapitel heraus, dass derjenige Tim war, fühlt sich der Leser zurecht getäuscht. Als Autor kann man nicht die Szene II so schreiben, ohne etwas grundlegendes zu verändern. Die Erzählperspektive darf auf keinen Fall die gleiche sein, da Tim dem Leser bekannt ist. In beiden Szenen wird mit der personalen Perspektive gearbeitet. Eine Möglichkeit wäre es, in einer der beiden das Geschehen aus der Ich-Perspektive zu schildern. Nur darf das dann keinen Bruch zur restlichen Erzählweise darstellen.

Die andere Option zur Verschleierung ist die, eine weitere Person hinzu zu nehmen, aus deren Sicht Szene II erzählt wird. Nehmen wir an, in der ersten Stunde stellt die Lehrerin einen neuen Mitschüler vor. Tim kommt immer noch zu spät, der Mitschüler beobachtet ihn, wie er mit dem Fahrrad auf dem Schulhof ankommt. Dadurch das der Mitschüler neu in der Klasse ist, weiß er nicht, wen er da aus dem Fenster heraus sieht. Zwar kann ihm die Entschlossenheit des anderen auffallen, aber er wird nicht wissen, dass dieser plant, das Salamibrötchen der Lehrerin zu stehlen — zumindest nicht, bevor der Diebstahl geschieht.

Während mit der zweiten Möglichkeit die handelnde Figur im Schatten bleibt, wirft sie gleichzeitig ein neues Problem auf. Der Mitschüler darf nicht nur in der 2. Szene kurz auftauchen, um die Szene aus seiner Perspektive schreiben zu können. Er muss auch für den weiteren Verlauf eine Relevanz haben. Zum Beispiel wird er später von Tim erpresst, da Tim fürchtet, der Mitschüler würde ihn verraten. geschickt geschrieben könnte dann in der 3. Szene der Eindruck entstehen, dass Tim den Mitschüler deshalb erpresst, weil Tim beobachtet hat, wie der Neue das Salamibrötchen stahl — obwohl es genau umgekehrt ist. Jetzt braucht man nur noch etwas, mit dem der Mitschüler erpressen ließe, denn das muss dann irgendwann offenbart werden.

Je geschickter man als Autor vorgeht, desto besser gelingt hier die Täuschung, denn um eine solche handelt es sich nach wie vor. Nur eben um eine Täuschung, die der Leser akzeptieren kann.

2 Kommentare

  1. ZITAT: Wenn wir beim Salamibrötchen bleiben: “Unbeobachtet griff eine in einem schwarzen Lederhandschuh steckende Hand nach dem Pausenfrühstück.” Ein paar Seiten zuvor erfuhr der Leser, dass Tim selbst bei über 18 Grad Außentemperatur schwarze Lederhandschuhe trägt (vielleicht weil er Motorradfahrer ist). Die Spannung ist hier genauso ruiniert wie das geplante zweite Frühstück der Lehrerin.

    Ich weiß nicht … An sich ist ja diese Szene prototypisch für eine falsche Spur: der Leser/die Leserin denkt (=ist sich GANZ SICHER), es handele sich um Tim – und genau das will der Autor ja auch auslösen: diese falsche Überzeugung. Am Ende war’s nämlich nicht der Tim, sondern seine Schwester Tabita, die entweder Tim in die Sch…e reiten wollte, indem sie sich angezogen hat wie er, um als „Tim“ identifiziert zu werden, oder die eine Allergie hat und auch Handschuhe trägt (vielleicht normalerweise weiße, jetzt aber hat sie sich Tims Handschuhe ausgeliehen, und der Diebstahl des Brotes war eine Spontanhandlung).

    Aber gut, sei’s, wie’s wolle. Der Artikel war gut, hat mich zum Nachdenken gebracht. Vor allem darüber, wieviel (billige) Taschenspielertricks ein Krimi verträgt, ohne der Leserin auf die Nerven zu gehen.
    Danke.

    1. „Am Ende war’s nämlich nicht der Tim, sondern seine Schwester Tabita…“ — in diesem Fall wäre es zu 80 % ein Krimi von Agatha Christie. Das mehrfache um die Ecke denken überfordert zumindest einen Teil der Krimi-Autoren doch erheblich.

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