Als meine Frau und ich vor bald vier Jahren nach Köln umgezogen sind, stand schon damals die autofreie Siedlung „Stellwerk 60“ für uns zur Diskussion. Da Umzugstermin und bezugsfertige Wohnungen stark auseinander gingen, kam es zunächst anders. Zwei Jahre später nutzen wir dann die Chance, das zu korrigieren und in die autofreie Siedlung zu ziehen. Das war bei uns beiden eine bewusste Entscheidung. Nicht nur, weil wir kein Auto besitzen, sondern auch, weil wir autofrei leben und entsprechend auch wohnen wollten.
Bis Ende letzten Jahres waren hatte ich immer einen gemischten Eindruck von der tatsächlichen Autofreiheit. Man kennt es aus Animal Farm: „All animals are equal, but some animals are more equal than others.“ Für einige Bewohner, so mein Eindruck, schien die Autofreiheit nicht zu gelten. Auch hier im Blog hat ich mich das eine oder andere Mal darüber aufgeregt. Seit Anfang des Jahres hat sich die Situation geändert. Die autofreie Siedlung ist wirklich autofrei. Keine Paket- oder Lieferdienste, die einfach in die Siedlung reinfahren (und gerne mal vergessen, die Poller wieder rein zu machen) mehr. Keine Handwerker mehr, die mit ihren Wagen die Zufahrten blockieren und vor allem keine privaten PKWs mehr, mit denen Einkäufe bis vor die Haustür transportiert werden.
Seit 2014 gilt die autofreie Siedlung als Fußgängerzone, die nur mit behördlicher Ausnahmegenehmigung befahren werden darf. Meiner Meinung nach ist das auch gut so. Allerdings sehen nicht alle Nachbarn das so. Einige hätten gerne ein Lieferzeitfenster, in der die Siedlung auch ohne Ausnahmegenehmigung befahren werden darf. Aus diesem Grund gab es gestern ein Infotreffen im Lummerland, der Kindertagesstätte auf dem Siedlungsgelände. Von Anfang an war mir klar, dass es zwei Fraktion gibt und geben würde. Schließlich war der Einladung auch ein Aufruf einiger Nachbarn angehängt, die „Autofrei nach Augenmaß!“ fordern und sich für eine Lieferzeitfenster aussprechen.
Spannend fand ich die Art und Weise der Kommunikation — wie inhaltlich in den meisten Fällen aneinander vorbei geredet wurde. Der Subtext einiger Wortbeiträge sprach auch meiner Sicht auch Bände. So wurde unterschwellig damit gedroht, wegzuziehen, wenn man seinen Willen nicht bekommt. Als ob das eine Drohung wäre. Bei einer rigorosen Autofreiheit, so die Argumentation, würde man niemals einen Käufer für sein Haus / seine Wohnung bekommen. Ganz ehrlich, das entspricht nicht der Wahrheit. Ich würde Haus / Wohnung bei entsprechenden Preis sofort nehmen. Schließlich will ich autofrei leben, ohne Ausnahme.
Was mich wirklich gestört an der Diskussion, sind die wackeligen Argumente der Befürworter einer Lockerung. Wer wirklich glaubt, so etwas wie Lieferzeitfenster würde gerade in einer Stadt wie Köln funktioniert, ist selber realitätsfern. Selbstverständlich funktioniert es nicht. Einige der Anwesende berichtet daher auch, wie es in den letzten Jahren gewesen ist. Dagegen fehlen belastbare Erfahrungen mit der völlige Autofreiheit und der Handhabung der Ausnahmegenehmigungen. So wurde jenseits von Fakten argumentiert und der Stadt Bürokratie, Willkür und ähnliches bei der Erteilung von Ausnahmegenehmigungen unterstellt. Wohlgemerkt, ohne das einer der Befürworter des Lieferzeitfenster überhaupt Erfahrungen mit den Ausnahmegenehmigungen vorweisen konnte.
Auch der Hinweis auf die persönliche Freiheit ist nicht zielführend, denn die hat immer dort Grenzen, wo sie die Interessen der Allgemeinheit tangiert. Es sei auch auch noch mal darauf hingewiesen, dass niemand dazu gezwungen wurde, in die autofreie Siedlung zu ziehen. Das war eine bewusste und freiwillige Entscheidung. Eine autofreie Siedlung lässt sich auch nicht darauf beschränken, dass man selber kein Auto habe und damit bereits einen Beitrag zur Entlastung von Verkehr und Umwelt geleistet hätte. Ein bisschen autofrei geht genauso wenig wie ein bisschen schwanger; oder aber sich für einen Vegetarier zu halten, weil man zweimal die Woche kein Fleisch isst. Wer strickte autofreiheit für unbequem hält, sollte sich fragen, ob er im Stellwerk60 wirklich richtig aufgehoben ist.
Unanständig fand ich die Begründungen, mit denen Werbung für ein Lieferzeitfenster gemacht wurde. Dahinter steckte in meisten Fällen die eigene Bequemlichkeit, auch wenn das immer wieder geleugnet wurde. Und nicht nur ich habe herausgehört, dass es einem Teilnehmer doch darum ging, seine privaten Einkäufe bis vor die Tür transportieren zu können.
Autofreiheit, so hieß es bereits in dem der Einladung beigefügten Schreiben, sei keine Religion. Ja warum eigentlich nicht? Und was ist an Religion so schlimm? Wer Sätze beginnt mit „Ich wohne hier wirklich gerne, aber …“ möchte im Grunde doch eine Lösung für sich, selbst wenn das eine Reduzierung der Lebensqualität für andere bedeutet.
Nicht jeder kann seine Einkäufe transportieren, es sei, so hieß es, gerade im Alter beschwerlich. Auf den Vorschlag, in solchen Fällen doch auf nachbarschaftliche Hilfe zurück greifen zu können, wurde nicht eingegangen. Auch wenn es sich hart anhört in diesem Zusammenhang: wenn man in dem gesteckten Rahmen nicht mehr in seinem Lebensalltag zurecht kommt, muss man eben ausziehen. Bei einem 8-Parteien Haus und wohnen im vierten Stock ohne Aufzug in einer normalen Siedlung hat man auch keine andere Wahl.
All zu häufig wurde auch drauf herumgeritten, dass man für einen Umzug nur eine Stunde Zeit hätte, sich legal mit dem Transporter im Siedlungsgelände aufzuhalten. Ehrlich gesagt bezweifle ich das. Auch wenn die Stadt für die Vergabe von Ausnahmegenehmigungen zuständig ist, heisst dass nicht, dass mit ihr keine vernünftigen Lösungen und Modelle gefunden werden können.
Zwar gab es gestern Abend eine am Ende der Veranstaltung zu einzelnen Punkten die Abfrage eines Meinungsbildes, interessant wäre es aber gewesen, diese auch schon mal zu Beginn einzuholen. Damit hätte man vergleichen können, ob sich durch die Diskussion etwas verändert.
Beweise dafür, dass ein Lieferzeitfenster funktionieren, fehlen. Gegenbeispiele auf der anderen Seite gibt es zur Genüge. Wer sich der „regiden“ Regelung nicht „unterwerfen“ will, der kann meinetwegen gerne woanders hinziehen.