Jetzt steht er also, der Koalitionsvertrag zwischen SPD, CDU und CSU. Bevor das in einer Regierungskoalition mündet, dürfen vorher die SPD-Mitglieder darüber abstimmen. Also mit „ja“, „ja sicher“, oder „auf jeden Fall dafür“. Aber mal im Ernst. Man muss keine besondere Lebensmittelunverträglichkeit haben, um auf den Koalitionsvertrag allergisch zu reagieren. Bisher konnte ich für mich noch kein überzeugendes Argument für eine große Koalition erkennen. Sachzwänge sind, nebenbei bemerkt, keine Argumente. Daher reagiere ich besonders allergisch auf „alternativlos“ oder der Androhung von Rücktritten oder anderen Konsequenzen. So was führt, zumindest beim mir, zu einer Trotzreaktion. Wenn der Parteispitze die Meinung der Basis nicht passt, soll sie sich gefälligst eine andere suche.
Die rund 185 Seiten des Vertrages durchzulesen, ist für sich genommen schon ein ganzes Stück Arbeit. Soll wohl auch zu sein, denn das Problem von verständlicher Sprache ist vor allem, das man verstanden wird — nicht immer ist genau das beabsichtigt. Man verzeihe mir daher, wenn ich mir ein paar Rosinen aus dem Werk herauspicken. Wobei, Rosinen ist hier der falsche Begriff. Abgesehen davon von ihrem allergischen Potential sind es ja keine besonders positiven Highlights, sonder bittere Pillen der Niederlage. Da hilft es auch nicht, wenn man den Pillen vorher ein Überzug aus Lebensmittelfarbe verpasst hat.
Mehrfach habe ich mich dazu bereits geäußert, wie wichtig mir das Thema Mindestlohn ist. Die Verhandlungsführer der SPD streichen, wie unter anderem in einer Mail von Sigmar Gabriel und Andrea Nahles zu lesen ist, heraus, in dieser Hinsicht viel erreicht zu haben. „Einen gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro ab 2015!“, feiert man sich. Dabei liesst sich das im Koalitionsvertrag ganz anders:
Zum 1. Januar 2015 wird ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn von 8,50 Euro brutto je Zeitstunde für das ganze Bundesgebiet gesetzlich eingeführt. […]
Tarifliche Abweichungen sind unter den folgenden Bedingungen möglich:Abweichungen für maximal zwei Jahre bis 31. Dezember 2016 durch Tarifverträge repräsentativer Tarifpartner auf Branchenebene
Ab 1. Januar 2017 gilt das bundesweite gesetzliche Mindestlohnniveau uneingeinschränkt […]
Für Tarifverträge, bei denen bis 31. Dezember 2016 das Mindestlohnniveau nicht erreicht wird, gilt ab 1. Januar 2017 das bundesweite gesetzliche Mindestlohnniveau […]
Im Übrigen ist klar, dass für ehrenamtliche Tätigkeiten, die im Rahmen der Minijobregelung vergütet werden, die Mindestlohnregelung nicht einschlägig ist […]
Das sind keine Schlupflöcher, sondern ein riesiges offenes Tor um die eigentliche Absicht zu umgehen. Übergangsfristen sind meiner Ansicht nach nicht notwendig. Es sei denn, man kompensiert den Differenzbetrag zum Mindestlohn. Richtig gelesen steht im Koalitionsvertrag, dass man es für akzeptable hält, drei Jahre lang Arbeitnehmer nach wie vor so beschissen (man verzeihe mir den Kraftausdruck) zu bezahlen wie bisher. Der Zeitpunkt, 2017, ist auch sehr weit nach hinten gelegt in der Hoffnung, bis dahin den Mindestlohn unter den Tisch kehren zu können. Notfalls durch vorgezogenen Neuwahlen.
Es gibt aber noch weitere Themen, die auffallen. So wird die umstritten Vorratsdatenspeicherung kommen. Ohne Anlass und Verdacht werden Telefon- und Internetverbindungsdaten (also wer mit wem und wie lange) mindestens drei Monate lang gespeichert.
Ganze 39 Treffer gibt es zum Thema „Energie“ im Koalitionsvertrag. Man sollte meine, die Energiewende wäre ein wichtiges Thema. Es wird aber mehr als deutlich betont, was Vorrang hat:
Beim weiteren Ausbau der Erneuerbaren Energien ist der Kosteneffizienz und Wirtschaftlichkeit des Gesamtsystems einschließlich des Netzausbaus und der notwendigen Reservekapazitäten eine höhere Bedeutung zuzumessen.
Ausbau erneuerbarer Energien ja, aber bitte nur zum Nulltarif für alle, heisst das. Ansonsten schiebt man das Thema auf die lange Bank. Bis 2025 soll 55 bis 60 Prozent der Energie aus regenerativen Quellen stammen — sofern es bezahlbar ist, wie es klar heisst.
Interessant sind auch Randgebiete, die bisher wenig in der öffentlichen Wahrnehmung waren, zum Beispiel Öffentlich-Private Partnerschaften. Unter dem Stichwort heisst es im Koalitionsvertrag:
Die Fortentwicklung von Öffentlich-Privaten-Partnerschaften (ÖPP) braucht einen breiten gesellschaftlichen Konsens. Wir wollen die Möglichkeiten der Zusammenarbeit von öffentlichen und privaten Geldgebern oder Infrastrukturgesellschaften als zusätzliche Beschaffungsvariante nutzen, wenn dadurch Kosten gespart und Projekte wirtschaftlicher umgesetzt werden können.
Wenn sich etwas in das Thema einliest, erkennt man die Privatisierung durch die Hintertür, die in der ÖPP steckt.
Es gibt auch Dinge, die völlig fehlen. In der Mail seitens der Parteispitze ist keine Rede von der völligen Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften. Im „Regierungsprogramm“ der SPD hieß es dazu noch:
Wir wollen die Ehe für gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften öffnen und diese damit auch im Adoptionsrecht und im Steuerrecht gleichstellen.
In den Verhandlungen blieb das vollkommen auf der Strecke. Das ist mehr als nur enttäuschend.
Wirklich erschreckend ist, mit welchen Summen hantiert wird. Allein in der E-Mail von Sigmar und Andrea ist die Rede von 20 Milliarden Euro an Mehrausgaben, ohne das erklärt wird, wo das Geld her kommen soll, wenn man gleichzeitig Steuererhöhung ausschließt. Damit, und auch verstärkt durch die rentenpolitischen Maßnahmen, drängt sich der Eindruck auf, hier werden den nachfolgenden Generationen verantwortungslos zusätzliche Lasten aufgebürdet.
Im Gegensatz zu zahlreichen Beteuerungen trägt der Koalitionsvertrag keine klare sozialdemokratische Handschrift. Es sind eher ein paar mit zittriger Hand hin gehauchte Worthülsen.
Um es noch mal in aller Deutlichkeit zu sagen: Als überzeugter Sozialdemokrat kann man diesen Vertrag nur ablehnen. Gleiches gilt für unterschwellige Manipulationsversuche im Stile von „Was wäre, wenn eine Mehrheit der SPD-Mitglieder den Vertrag ablehnen würde?“ Solche Suggestivfragen sind eine Beleidigung für selbständig denken Parteimitglieder.
Wer fragt, was man Millionen Menschen sagen soll, die nicht von einem gesetzlichen Mindestlohn profitieren würden, sollte sich fragen, warum diese Menschen bis 2017 warten müssen.
Heute ging noch ein Dokument per Mail raus, in dem erneut die „Die sozialdemokratische Handschrift im Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD“ hervorgehoben wird. Sechs Seiten sollen dazu verleiten, sich selber nicht die Mühe zu machen, in den Koalitionsvertrag rein zu schauen. Auch in diesem Dokument werden die Themen nur verkürzt wieder gegeben, ohne auf Ausnahmeregeln hinzuweisen. Aber vielleicht war das ja nur ein Versehen.
2 Kommentare
Man scheint die eigenen Mitglieder ja ganz schön zu Verarschen…. gut das es nicht meine Partei ist.
Ich bin da sehr leidensfähig …