Gestern las ich via Retweet durch @Pottblog einen Tweet von @EinAugenschmaus. Empörung über die Preisverleihung für Erdogan durch Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder. Auch wenn die ursprüngliche Meldung von 2012 stammt und Julia Probst (alias @EinAugenschmaus) sich für den Tweet entschuldigte, legte ich mir den Artikel von Spiegel Online auf Wiedervorlage für heute.
Für mich spannend ist die über die aktuelle Situation in der Türkei die Entwicklung dorthin. In der Meldung vom Spiegel heisst es:
Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder wird Erdogan einen Preis überreichen, den „Steiger-Award“, mit dem „Toleranz“ und „Offenheit“ gewürdigt werden sollen. Erdogan bemühe sich „seit Jahren um einen demokratischen Wandel in seinem Land“, so die Veranstalter.
Quelle: Spiegel Online
Nach der ersten Empörung bei mir gestern und der Korrektur, dass der fragliche Artikel aus dem letzten Jahr stammte, durchlief einen merkwürdigen Prozess. Meine spontane Reaktion, jeder könne schließlich daneben liegen mit seiner Einschätzung, war wohl etwas unbedacht. Weniger weil ich behaupten würde, es immer schon gewusst zu haben, sondern weil die Sache an sich wesentlich komplizierter ist. Den ich teilte für ein paar Minuten die Meinung, der Preis sei zumindest damals wohl gerechtfertigt gewesen.
Gespeichert in meinem Bewusstsein waren die vielen Erfolge der Türkei während der bisherigen Regierungszeit von Recep Tayyip Erdogan. Wirtschaftlich gehört das Land zu einer der aufstrebenden Nationen, die Kurdenfrage wurde anders angegangen als noch vor einigen Jahren und auch mein Gesamteindruck war der, die Türkei wäre offener und toleranter als zu vor. Schließlich wurde auch die Macht des Militärs eingeschränkt, um einen Militärputsch nie wieder möglich zu machen. Nicht zu vergessen auch die Abschaffung der Todesstrafe am Anfang der Amtszeit von Erdogan.
Und dann sickerte langsame die Realität zurück in mein Bewusstsein. Der Fall Dogan Akhanil, meine eigene Einschätzung aus dem Jahr 2008 zum Thema Türkei und Assimilierung und schließlich das, was ich noch ein paar Tagen an gleicher Stelle über die Vorgänge im Gezi-Park geschrieben hatte.
Recep Tayyip Erdogan ist kein Wolf, der Kreide gefressen hat. Erdogan war immer schon er selber. Je stärker sein Rückhalt wurde, je breiter die Zustimmung bei den Wahlen, desto deutlicher ließ sich erkennen, wohin der Kurs führen würde. Vielleicht wäre es besser gewesen, bei Zeiten die „privilegierte Partnerschaft“ aufzuheben und die Türkei zu einem gleichberechtigten Mitglied in der Europäischen Union zu machen. Warum das bei ehemaligen Ostblockstaaten immer so schnell geht, obwohl diese noch ganz junge, nicht mal gefestigte Demokratien haben, wundert mich ehedem schon länger.
Der Kurs, den Erdogan eingeschlagen hat und der deutlicher den je zu erkennen ist, wird die Türkei in die Isolation führen. Wenn man das Niederknüppeln von Demonstranten als Erfolg für die Demokratie feiert, dann liegt das Verständnis von dem, was Demokratie bedeutet, tatsächlich erheblich auseinander zwischen der Türkei und anderen europäischen Ländern.
Ein Zitat von Erdogan sollte man sich gut einprägen:
Ich erkenne dieses Parlament der Europäischen Union nicht an.
Quelle: KSTA 139/2013, S. 1
Deutlicher kann man nicht zum Ausdruck bringen, was man von der EU wirklich hält. Wer die Legitimität des Europäischen Parlaments, dessen Vertreter von über 375 Millionen Menschen in 27 Staaten in freier und geheimer Wahl bestimmt wurden in Frage stellt, ist kein Verhandlungspartner für einen Beitritt. Die Menschen in der Türkei habe eindeutig etwas besseres verdient als Recep Tayyip Erdogan. Die Türkei steht an einem Wendepunkt. In den folgenden Wochen wird sich zeigen, welchen Kurs das Land nehmen wird. Eine entschlossen Hinwendung Richtung Europa, was nur ohne Erdogan gehen wird oder aber Aufbruch zu einer Reise in die Isolation.
Eine Antwort