Von allen guten und bösen Geistern verlassen

Manche Szenen in einem Roman verbergen oft Informationen vor dem Leser. Erst viel später erfährt er, warum bestimmte Dinge so geschehen sind, wie er mitgeteilt bekommen hat. Mit etwas Phantasie kann man als Leser jedoch diese Lücke vorab mit einer eigenen Version füllen.

Nehmen wir zum Beispiel eine Stelle aus dem Krimi, den ich derzeit lese. Die Handlung ist 1947 im zerstörten Nachkriegs-Hamburg angesiedelt. Der ermittelnde Oberinspektor muss auf Weisung seines Vorgesetzten mit einem britischen Offizier zusammenarbeiten. Dieser verliebt sich in die verheiratete Sekretärin des Polizisten. In einer Szene sieht der Oberinspektor, wie die beiden miteinander reden. Die Frau ist kurz davor in Tränen auszubrechen. Mittlerweile, nach dem ich weiter gelesen habe, kenne ich den Grund dafür. Als ich jedoch erstmal nur diese Stelle vor mir hatte, gingen mir verschiedene Möglichkeiten durch den Kopf.

Die einfachste davon war die: Der Offizier teilt der Frau mit, sie sei für ihn nur ein One-Night-Stand gewesen. Und im Grunde sei sie auch nicht sein Typ. Ziemlich plump, ziemlich viel Klischee. Meine bessere Variante ging in eine ganz andere Richtung. Dazu muss man allerdings wissen, dass der Mann der Frau zum Zeitpunkt der Szene als verschollen galt:

Die Frau hat sich auf eine Affäre mit dem Offizier eingelassen, weil dieser ihr im Gegenzug versprach, ihr Informationen zum Verbleib ihres Mannes zugänglich zu machen. In Wahrheit hat er jedoch keinen Hinweis, was mit ihrem Mann passiert ist, was er ihr kurz vor dem Moment gesagt hat, als der Oberinspektor die beiden beobachtet.

Denkbar wäre auch eine Versetzung des Offiziers an einen anderen Standort. Das frisch verliebte Paar wird durch höhere Gewalt auseinander gerissen, die Frau verliert zum zweiten Mal einen Mann, den sie liebt.

Jede Variante lässt sich in die Geschichte einpassen, ohne die Haupthandlung zu verändern – aus dem einfachen Grund, weil es ein Nebenstrang ist. Solche Nebenstränge haben keine tragende Rolle, erfüllen aber dennoch in der gesamten Konstellation einen Zweck. Entweder dienen sie der Abwechslung, der Entspannung nach einer spannenden Szene des Hauptstrangs oder aber sie führen den Leser absichtlich auf eine falsche Fährte:

Der Offizier hat sich nur mit der Frau eingelassen, weil er durch sie an Akten der Polizei gekommen ist, zu der er sonst keinen Zugang gehabt hätte. Im dem Moment, wo der Leser durch die Figur des Oberinspektors auf die Szene blickt, hat die Frau zuvor erkannt, was der Brite wirklich für ein Spiel mit ihr gespielt hat.

Auf diese Weise könnte sogar eine unwichtige Szene im späteren Verlauf eine Bedeutung für die Haupthandlung und die Aufklärung des Falls haben. In der Szene selber jedoch sieht der Leser nur das, was unmittelbar passiert. Die Sekretärin ist kurz davor in Tränen auszubrechen, der Offizier redet auf sie ein. Was dahinter passiert, bleibt genauso wie das, was die beiden zuvor miteinander besprochen haben, verborgen.

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