Es gibt Begriffe, die in gewisser Weise vorbelastet sind. Nicht wenige in meiner Generation denken bei „Schmuddelkinder“ an das Lied von Franz Josef Degenhard – wer das Lied nicht kennt, hat eindeutig eine Bildungslücke. Aber darum soll es gar nicht gehen.
„Schmuddelkinder“ ist auch der Titel eines Buches von Matthias P. Gibert. Der im Gmeiner Verlag erschienen Krimi trägt den Zusatz „Lenz‘ sechster Fall“. Mittlerweile kann ich nicht mehr von mir behaupten, vorurteilsfrei an die Werke andere Krimi-Autoren heranzugehen. Auf Grund vergangener Leseerfahrungen waren meine Erwartungen in Bezug auf den Verlag nicht ganz so hoch. Zusätzlich bedeutet so ein sechster Fall auch, das man als Leser mittendrin einsteigt und die ganze Vorgeschichte der Hauptfigur nicht kennt. Das wirkt sich in der Regel trübend auf das Lesevergnügen aus.
Diesmal lag ich mit meinen Vorurteilen weit daneben. Es ist bei „Schmuddelkinder“ nicht nur völlig unerheblich, ob man die anderen Krimis kennt oder nicht. Gibert ist mit dem Buch ein überzeugender Krimi gelungen. Darüber hinaus hat mich „Schmuddelkinder“ auch auf sprachlicher Linie überzeugt.
Kurz zur Handlung, so wie der Verlag sie beschreibt:
Der pensionierte Erzieher Dieter Bauer wird durch einen Schlag auf den siebten Halswirbel getötet. Am Abend des nächsten Tages wird Ruth Liebusch tot aufgefunden – ebenfalls eine ehemalige Erzieherin, ebenfalls getötet durch einen Schlag auf den siebten Halswirbel. Und es gibt noch eine Gemeinsamkeit zwischen den Opfern: Beide waren in den 70er Jahren im Karlshof tätig, einem berühmt-berüchtigten Jugendheim südlich von Kassel.
Quelle: Gmeiner
Natürlich merkt man dem Krimi die sozialkritische Komponente an. Diese zieht sich durch die Handlung, wird aber nie moralisch gewertet. Der Autor verlässt sich zu Recht auf die Reflexion durch den Leser. Genre-Typisch ist die Handlung nicht nur durch die Mordfälle geprägt, sondern es wird auch das Privatleben von Hauptkommissar Lenz ausgebreitet – allerdings nicht ohne geschickt den Seitenhieb unterzubringen, dass dies doch seine Privatsache sei und nichts mit der Arbeit zu tun habe. Geschickt platzierte Ironie, nennt man das.
Ohne zu viel zu verraten ist auch die Auflösung des Falls gut inszeniert. Gibert beherrscht das Spiel mit den Red Herring beeindruckend. Stück für Stück tasten sich die Ermittler an die Wahrheit heran, bekommen einen immer tieferen Blick in den Abgrund der Vergangenheit und erkennen gegen Ende, wie nah sie schon früher an der Auflösung waren.
Eine besondere Rolle bekommt im Krimi auch das Verhältnis von Lenz zur Frau des Oberbürgermeisters, der den Hauptkommissar über Vorgesetzte und Presse einzuschüchtern versucht. Auch wenn Lenz weiss, wie schlecht seine Karten sind, bleibt er sich selber treu und bügelt einen besonders aufdringlichen Journalisten am Telefon mit folgenden Worten ab:
Wenn ich Freunde brauche, Herr Peters, gehe ich mit einer großen Packung Futter in den Streichelzoo. Sie glauben gar nicht, wie schnell man dort Freundschaften schließt.
Mein Lachen beim lesen der Passage hat man sicher im gesamten Zugabteil gehört. Ginbert gelingt auch der Beweis, dass lange Sätze nicht per se falsch sind in der Belletristik:
Dieter Bauer ging mit gesenktem Kopf und auf den ergonomisch geformten Griff seines Stockes in der linken Hand gestützt die letzten Meter bis zu seinem Haus, kramte das dicke Schlüsselbund aus der Hosentasche und steckte den kleinen Sicherheitsschlüssel ins Schloss. Mit einem kräftigen Ruck, den man dem alten, gebückt gehenden Mann nicht zugetraut hätte, zog er die Tür zu sich heran, drehte seine Hand nach links und schob das schwere Holzblatt nach vorne.
Man könnte streichen, kürzen, optimieren. In der Fassung, so wie sie am Anfang des Krimis zu finde ist, wirken die Sätze jedoch. Vor allem sind es auch hier wieder kleine Details, die beim zweiten lesen auffallen. Der kräftige Ruck erklärt sich aus dem Hintergrund der Figur. Nicht unterschlagen möchte ich den fehlenden Prolog. Gibert kommt ohne aus, denn er fängt so an, wie man gemeinhin als Autor auch anfangen soll: mit der unmittelbaren Handlung.
Fazit: Der sechste Fall von Lenz ist sicher nicht mein letzter gewesen. Bisher gibt es zehn Stück aus der Reihe und wenn man den Kommentaren anderer Leser glauben darf, hat sich Gibert mit jedem geschriebenen Buch gesteigert. Wer einen soliden, gut geschrieben Krimi sucht, der ist mit „Schmuddelkinder“ auf jeden Fall gut beraten. Und falls die anderen Schmuddelkinder nicht bekannt sind, hat man auch in dieser Hinsicht etwas nachzuholen.