Von allen guten und bösen Geistern verlassen

Thomas Glavinic flieht vor Lisa. So war die Lesung gestern in der Kulturkirche angekündigt. Das der Gemeindepfarrer Schwierigkeiten beim aussprechen des Namens hatte, kann ich nachvollziehen.

Konsequent hat er sich dann geweigert, mit zweifelhaften Versuchen sich selber zu quälen und den Namen dann einfach weggelassen. Das sorgt im Publikum für eine leichte Erheiterung, aber mir gefällt so was – zu den eigenen Schwächen stehen.

Julia Schröder, die an diesem Spätnachmittag die Moderation übernahm, hatte dagegen keine Schwierigkeiten mit dem Namen (auch nicht die junge Frau, die die zweite Begrüßung übernahm, dafür aber extrem nervös war). Thomas Glavinic also. Gleiche Veranstaltungsort wie am Freitag, ebenso wenig Haar wie Stephen Kelman. Allerdings kam Glavinic, obwohl Österreicher, ohne Übersetzer aus. In der Zweier-Kombination, Moderation und Lesung, macht eine Veranstaltung meiner Meinung nach mehr Sinn. Kommen wir aber noch mal auf Kelman und Glavinic im Vergleich zu sprechen. Sicher, es ist nicht ganz fair, denn „Lisa“ das bereits das siebte Buch von Glavinic. Er verfügt also über entsprechend viel Erfahrung. Dennoch drängt sich mir etwas auf, was sehr deutlich spürbar war. Kelman hat einen Roman geschrieben. Glavinic dagegen Literatur. Es hört sich ungerecht an, aber es ist einfach so. In den Sätzen von Glavinic spürt man einen stimmigen Rhythmus. Sein Buch ist in jeder Hinsicht auf der Höhe der Zeit. Er hat, auch wenn das nicht allen gefällt, eine moderne Form eines Briefromans geschaffen. Der Erzähler, „nennt mich Tom“, betreibt ein Internet-Radio und richtet sich an die ihm unbekannte Zahl von Zuhörern irgendwo da draussen. Verfolgt wird er von der Schwerkriminellen Lisa, die sich wie ein mordendes Phantom durch die Welt treibt.

Lisa


Was mir gefallen hat, ist sowohl der Humor also auch die Weltbetrachtungen von Tom. Da klingen Sachen an, von denen nicht nur Glavinic den größten Teil unterschreiben würde, sondern auch die Leser von „Lisa“. Diese Art der Gesellschaftskritik ist es, die das Buch zu einem Stück Literatur macht; zumindest dann, wenn man diese wie Glavinic gekonnt verpackt. Bereits die ersten Sätze machen Lust, dass Buch in einem Rutsch weiter zu lesen:

Ich bilde mir nicht ein, wahnsinnig viel über die Menschen zu wissen. Aber ich weiß immerhin, dass so ziemlich das Einzige, was einem Menschen bei anderen Respekt verschafft, seine Unabhängigkeit ist. Und weil ich das über Fußballfans gesagt habe, alles die reine Wahrheit.

Glavinic wurde von Julia Schröder einleitend gefragt, ob er Probleme mit der Wirklichkeit habe. Seine Antwort dazu war eine Feststellung: „Wer nicht?“ Wer keine Probleme mit der Wirklichkeit habe, so Glavinic, der habe echte Probleme. Eine interessante Einstellung. Auch auf anderen Gebieten wie zum Beispiel beim Thema „Soziale Netzwerke“ hat Thomas Glavinic eine eigene Meinung, die von den Vorurteilen, die Frau Schröder offensichtlich hat, abweicht.

Insgesamt war die Lesung für mich ein echtes Highlight diese Woche. Zudem wurde mein Augenmerk auf einen beachtenswerten Autor gelenkt, von dem ich bisher noch nichts gelesen habe – ein Umstand, den ich umgehend ändern werde.

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