Für die Entwicklung einer Figur wird in der einschlägigen Fachliteratur häufig empfohlen, einen Steckbrief oder Charakterbogen anzulegen.
Als Rollenspieler (im Vorruhestand) habe ich eine leicht andere Vorstellung von einem Charakterbogen. Die meisten Werte dort sind in der Regel (und nach den Regeln) ausgewürfelt. Sicher, für die Entwicklung von Romanfiguren habe ich bisher nirgends den Tipp gefunden, Eigenschaften zufällig zu bestimmen (wobei mich auch das nicht wundern würde). In mir sträubt sich aber einiges dagegen, für meine Figuren einen Bogen anzulegen und so typische Fragen wie Geburtsdatum, Körpergröße, Gewicht, Augenfarbe etc. zu beantworten. Was macht das für einen Sinn? Es verhindert meiner Meinung nach in keinster Weise, dass zweidimensionale Charakter entstehen – im Gegenteil.
Natürlich gibt es die physiologische, soziologische und psychologische Dimension einer Figur. Diese sollten sich aber nicht auf dem „Reißbrett“ entstehen, sondern sich organisch ergeben. Für die Entwicklung einer Figur gibt es kein Patentrezept, was ich hier feil bieten könnte. Aber ich kann zumindest beschreiben, wie ich meine Figuren entwickle.
Wie bereits im Artikel „Geburt einer Figur“ erklärt, entstehen bei mir die Geschichten aus einer Kombination der „plot driven“ und „charakter driven“ orientierten Vorgehensweise. Für die Figuren wähle ich einen zugegebenermaßen anstrengenden Weg: ich versetze mich so weit es möglich ist in ihre Lage. Das ist, gerade bei einem Serienkiller, mitunter sehr unangenehm (hier kommt mir das Rollenspielen von früher zu gute). Die physiologischen Dimension ist mir erstmal nicht so wichtig. Im Fokus liegt zunächst die Psychologie des Charakters. Für mich ist das der Zentrale Aspekt, denn die physiologische und soziologische Dimension wirken sich mittelbar und unmittelbar auch die Psyche aus (plumpes Beispiel: er aus einem armen Elternhaus kommt, leidet darunter).
Da ich eine Vorstellung davon habe, welche Bedeutung die Figur im Plot haben wird, kann ich sie ausgehen davon entwickeln.
Nehmen wir meinen Serienkiller, an dessen Profil ich gerade arbeite. Er bringt auf sehr grausame Weise Frauen um. Die Art und Weise war die Kernidee für den Krimi. Entscheiden ist für mich, warum er das macht. Bei ihm muss es ein Trauma geben. Nach mehreren Tagen Arbeit ist für mich klar, dass einbestimmtes Verhalten seiner Mutter dafür die Ursache ist (Details spare ich hier bewusst aus, denn ich brauch meinen Mörder noch…). Die Mutter hat ihn alleine groß gezogen. Zu diesen beiden Angaben fallen den meisten wohl eine Menge Klischees ein. Mir ist bei der Entwicklung wichtig, diese zu vermeiden. Seine Mutter hat ihn nicht verprügelt oder mit Liebe erdrückt. Auch hat ihr Mann sie nicht verlassen – er ist bei einem dusseligen Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Weder Vater noch Mutter waren Alkoholiker. Also keine schwere Kindheit, kein alkoholisierten Eltern. Ein ganz normales Elternhaus. Trotzdem ist es mir (so meine ich) gelungen, ein Trauma zu finden. Manchmal reicht es einfach aus, wenn sie jemand in bestimmten Punkten nachlässig verhält. Die Verletzung trägt meine Figur mit sich herum, ohne erstmal selber was davon zu ahnen. Ein bestimmtes Erlebnis lässt dann alles hervorbrechen.
Kommen wir wieder zurück zum Charakterbogen. Für mich persönlich habe ich festgestellt, dass die Methode des Freien Schreibens mir die brauchbarsten Ergebnisse in der Entwicklung einer Figur liefert. Ich versuche mich ihr zu näheren, mich in sie hineinzuversetzen. In der extremen Steigerung schreibe ich aus ihrer Sicht Tagebucheinträge. Eine andere Möglichkeit, von der man auch häufig liest, ist das Führen eines fiktiven Interviews mit der Figur. Das ist für mich wieder eine Vorgehensweise, bei der man sich der Figur von Außen nähert. Aus dem inneren heraus finde ich spannender, fordernder. Es verlangt aber von einem, dass man sich auf seine Figuren einlässt, ein Teil sogar mit ihnen verschmilzt. Und das ist, wie gesagt, bei einem Serienkiller nicht immer angenehm.
6 Kommentare
„In mir sträubt sich aber einiges dagegen, für meine Figuren einen Bogen anzulegen und so typische Fragen wie Geburtsdatum, Körpergröße, Gewicht, Augenfarbe etc. zu beantworten.“ – könnte solch ein Bogen aber nicht hilfreich sein, wenn es um die Vermeidung von „Ungereimtheiten“ geht? Z.B. (ein ganz banales) schreibt der Autor: „Das Licht lies das Blau seiner Augen leuchten.“ – im Bogen steht aber, dass er grüne Augen hat und im übrigen Text ist dies auch so beschrieben. Der Bogen als Hilfsmittel einer konsistenten Darstellung?
Für solche Ungereimtheiten wäre ein Bogen tatsächlich hilfreich. Allerdings: ich für meinen Teil finde die Augenfarbe einer Figur nicht wichtig, sofern sie nicht eine wesentliche Rolle in der Handlung spielt oder erhebliche Auswirkungen auf das Verhalten der Figur hat (zum Beispiel, wenn sie zwei unterschiedlich Augenfarben hat). Gleiches gilt in Bezug auf Körpergröße etc. Sofern es nicht wichtig ist, kann man es ruhig dem Leser überlassen, wie er sich die Figur vorstellt.
Sonderbar, als ich Charakterbogen las, musste ich zuerst an den „character arc“ denken, also an den Weg, den eine Figur im Roman durchläuft. Auch das wäre ja ein möglicher Ansatz, angetrieben natürlich von dem, was den Charakter treibt: Ziel und Motiv.
Ich bin auch ein großer Freund des freien Schreibens, um meinen Charakteren näherzukommen. In der englischen Ratgeber-Literatur wird das als Voice Journal bezeichnet, ein treffender Begriff, weil doch da schon die so wichtige Stimme des Charakters mit drinsteckt.
Der Charakterbogen im Sinne eines Steckbriefs ist wichtig, etwa für die Continuity, aber dem Charakter kommt man damit sicher kaum näher.
Hilfreich finde ich es, Fotos meiner Charaktere vor mir liegen zu haben, die ich aus Zeitschriften, Katalogen oder dem Web hole. Dabei geht es mir nicht primär um das Aussehen, als vielmehr um einen bestimmten Ausdruck, eine Energie, eine Leidenschaft, ein Gefühl – alles, was mir hilft, den Charakter lebendiger zu machen.
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Schönes Blog übrigens.
Danke für’s Kompliment :-)
Voice Journal ist wirklich ein treffender Begriff. Streckbriefe schließe ich nicht komplett aus – es kommt tatsächlich darauf an, was man von der Figur zeigt. Wenn bestimmte Merkmale vorkommen (weil sie handlungsrelevant sind), dann habe ich auch einen „Bogen“ dafür.
Den letzten Absatz finde ich sehr interessant. Genauso gehe ich auch vor. Die Fotos fließen beim mir nicht in die Beschreibung der Figur ein, sondern helfen mir, mich besser an die Figur anzunähern. Häufig mache ich das so, dass wenn der Name der Figur bereits feststeht, ich Bilder suche, die zu diesem Namen passen. Hört sich zwar ein Wenig nach Voodoo an, hilft aber.
Ich bin auch ein Fan des freien Schreibens. Alle Bücher die ich bis jetzt begonnen und abgeschlossen habe(leider noch keines herausgebracht) habe ich geschrieben, ohne zu plotten. Ich hatte es einmal versucht und bin kläglich gescheitert. Mein Hauptcharakter wollte einfach nichts mehr machen. Deshalb plotte ich nach, um Lücken oder Ungereimtheiten zu finden.
Einen Charakterbogen erstelle ich meistens, wenn ich eine Schreibblockade habe, ich eine Geschichte fertig habe, die „ruhen“ soll oder ich beim Bearbeiten einer Geschichte bin. Aber dierekt einen Charakterbogen am Anfang zu machen, kommt für mich nicht in Frage, das hemmt mich irgendwie und es lässt mich meinen Charakter nicht dort kennenlernen, wo es am besten ist: in der Geschichte und beim schreiben.
Äußerliche Beschreibungen meiner Figuren lasse ich immer mal wieder in der Handlung mit einfließen, wenn es passt. Find das gut so, ist besser als wenn jemand seinen Charakter gleich am Anfang beschreibt: „Er war 1. 80 Meter groß, hatte braune Haare und braune Augen, seine Statur war sportlich und seine Kleidung lässig, aber schick …“, das klingt wie eine Katalogsbeschreibung und außerdem soll man ja immer „zeigen, statt beschreiben“, oder? Hab solche Beschreibungen aber auf ein paar (jung/Hobby)- Autorenforen gelesen.
Bilder zu meinen Charakteren suche ich auch. Aber Tagebucheinträge aus der Sicht meiner Charaktere habe ich noch nicht geschrieben. Scheint aber eine interessante und gute Methode zu sein, ihn noch viel besser kennenzulernen und mit seinen Emotionen besser umzugehen.
Tolles Blog. :)
LG.
„Er war 1. 80 Meter groß,…“ – das wäre dann wirklich eine Katalogbeschreibung. Und die sagt wenig über das Verhalten der Figur aus. Wichtig, so habe ich mir das gemerkt, ist das Zeigen und in Bezug setzen. Wenn eine Figur groß ist, lässt sich das auch anders zum Ausdruck bringen:
„Es war das dritte Mal in dieser Woche das er sich an der Oberkante des Türrahmens den Kopf stieß.“ – wie man hie rauch erkennt, wäre es wichtig, den richtigen Begriff zu verwenden, den ich mit Sicherheit gerade nicht gefunden habe.
Tagebuch einer Figur bietet sich auch nur dann an, wenn man überhaupt nicht weiter kommt. Bei der Überarbeitung merke ich gerade wieder, dass es in meinem Kopf wie auf einer Theaterbühne zugeht. Die Figuren stehen auf den Bretter und warten auf Regieanweisungen. Erwartungsvoll schauen sie mich an…
Danke für’s Kompliment :-)