Bei der Betrachtung des Genres Kurzgeschichte war die Rede von Ernest Hemingways ‚Iceberg Theory‘, also das bewusste Auslassen von Informationen in einer Geschichte, so dass sich der Text erst in vollem Umfang erschließt, wenn man zwischen den Zeilen liesst.
Wie man als Leser einen Text interpretieren kann ist eine Sache. Ein ganz andere, für Autoren spannend und herausfordernd ist es jedoch, wie man es anstellt, Sachen auszulassen, dass eben kein Loch entsteht. Wie also schreibt man zwischen den Zeilen?
Versuchen wir uns der Antwort mit einem einfachen Beispiel zu nähern, an dem sich nebenbei noch etwas anders zeigen lässt:
Er war stets bemüht.
Ein kleiner Satz, so wie er in einem Arbeitszeugnis stehen kann. Der unbedarfte Leser denkt nun, dass der, um den es dort geht, sich tatsächlich redlich bemüht hat. Wer sich etwas auskennt, liesst etwas anderes. Die Person war zwar bemüht, konnte aber letztendlich den Anforderungen nicht gerecht werden.
An dem Satz kann man noch was anderes erkennen: verbrauchte Formulierungen, abgegriffen Bilder. In der Literatur läuft man schnell Gefahr, in den Kitsch abzudriften. Dunkle Wolken ziehen auf. Es droht Gefahr.
Drei gute Beispiel für Informationen, die in einem Dialog zwischen den Zeilen transportiert werden können, liefert Titus Müller in seinem Buch ‚Vom Abenteuer, einen Roman zu schreiben‘:
‚Mir ist kalt.‘
‚Es ist halb zwölf! Wo warst du so lange?‘
‚Früher hast du mir Blumen mitgebracht.‘
Auch ohne die von Müller vorausgeschobene Erklärung der Ausgangssituation dürfte klar sein, wer da mit wem spricht: eine Frau wendet sich an ihren Mann. Was sie tatsächlich mit dem gesagten meinen könnte, beschreibt Müller ebenfalls:
‚Schatz, würdest du bitte das Fenster schließen?‘ (Oder auch: ‚Nimmst du mich in den Arm?‘)
‚Betrügst du mich mit einer anderen Frau?‘
‚Liebst du mich noch?‘
Der Haken an den Beispielen ist, dass es doch noch zu offensichtlich ist. Versuchen wir daher, ein eigenes Beispiel zu finden. Dazu stellen wir uns folgende Situation vor. In fünf Sätzen soll eine Figur etwas über sich erzählen, ohne direkt anzusprechen, dass sie eigentlich verstorben ist. Wörter wie Tod, leben, Krankheit und ähnliches sollen dabei nicht vorkommen. Wie also stellen wir es an?
An meinem Lieblingstisch im Cafè sitzend schaue ich den Vorbeigehenden in ihren dicken Mäntel zu. Es wird wohl kalt sein. Die Hektik, mit der sie sich bewegen, ist nicht mehr die meine. Ohne Notiz von mir zu nehmen, kommt eine Frau herein, setzt sich auf den Stuhl. Ihr wie allen anderen überlasse ich geduldig meinen Platz.
Mit Sicherheit nicht das beste Beispiel und auch etwas zu dick aufgetragen, aber es sollte klar sein, auf welche Weise man die Richtung einschlagen kann.
4 Kommentare
„…. so dass sich der Text erst in vollem Umfang erschließt, wenn man zwischen den Zeilen liesst.“
Was zu dem spannenden Effekt führt, dass je nach Leser etwas anderes „zwischen den Zeilen herausgelesen“ wird/werden könnte?
Das kann durchaus passiert. Wer da an die Interpretationen im Deutschunterricht denkt: da gingen die Meinungen auch immer auseinander. Wobei es auch Texte gibt, wo unterschiedliche Menschen zu ähnlichen Ergebnissen kommen.
Als Autor: Ist mir die unterschiedliche Deutung gleichgültig – im Sinne von gleichermaßen gültig? Versuche ich die Deutung so zu beeinflussen, dass sie meiner Intention möglichst nahe kommt?
Je länger ich darüber nachdenke desto klarer wird mir, dass der Autor eigentlich versucht, die Deutung zu beeinflussen, wenn er eine bestimmte Intention verfolgt. Ist die Intention jedoch nur ‚Unterhaltung‘, so dürfte die Deutung des Lesers weniger eine Rolle spielen.