Zu definieren, was eine Kurzgeschichte ausmacht, ist kein leichtes Unterfangen. Die häufigste Aussage, die man im Zusammenhang mit Kurgeschichten hört ist die, dass es einheitlichen Merkmale von Kurzgeschichten nicht gibt.
Dafür existieren Annahmen darüber, was sie kennzeichnet. Häufig zu lesen ist, dass sie der geringe Umfang von anderen Geschichten unterscheidet, denn schließlich sei es ja eine kurze Geschichte. Eine kurze Geschichte ist aber nicht gleichbedeutend mit Kurzgeschichte, da sich diese Form anders entwickelt hat als die amerikanische short story.
Je nach dem, welchen Zeitraum man in der deutschen Literaturgeschichte seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts betrachte stößt man auf ganz unterschiedliche Formen dessen, was mit „Kurzgeschichte“ bezeichnet wird. Greifen wir aber noch mal die Länge auf, die vermeintlich Kurzgeschichte ausmacht. Es gibt kein keine (Seiten-)Zahl, anhand der gesagt werden kann, dass es sich bei einer Geschichte um eine Kurzgeschichte handelt oder eben nicht. Am ehesten dürfte wohl die Aussage zutreffen, dass es sich bei einem Text dann um eine Kurzgeschichte handeln kann, wenn nur ein sehr kurzer zeitlicher Ausschnitt aus dem Leben einer (oder auch mehrerer) Figuren zu sehen ist. Wie schwach dieses Kriterium ist, macht Ulysees von James Joyce deutlich. Die Handlung umfasst nur einen Tag, sein Werk bringt es aber auf fast 1000 Seiten.
Auch mit Vorsicht zu genießen ist die Annahmen, dass bei einer Kurzgeschichte die Figuren Menschen seien, die nicht herausragen. Gerade in der neueren deutschen Literatur gibt es unzählige Romane, wo der Protagonist eben nicht ein Held ist, sondern ein alltägliches Schicksal erleidet. Wiederum ein Kann-Merkmal ist etwas, das nach Ernest Hemingway als so genannte Iceberg Theory benannt wurde:
If it is any use to know it, I always try to write on the principle of the iceberg. There is seven-eighths of it underwater for every part that shows. Anything you know you can eliminate and it only strengthens your iceberg. It is the part that doesn’t show. If a writer omits something because he does not know it then there is a hole in the story.
Das Entscheidende an seiner Aussage sind zwei Aspekte. Zum einen, dass wie es bei Wikipedia heisst, „nur ein kleiner Teil Informationen direkt im Text steht“. Den Rest muss sich der Leser selber erschließen. Der Aspekt ist auch nicht unwichtig. Wenn ein Autor etwas im Text allein deshalb auslässt, weil er es nicht weiß, entsteht ein Loch in der Geschichte. Die Kunst besteht also darin, ganz bewusst Sachen auszulassen oder eben zwischen den Zeilen zu verstecken. Wer sich an die Kurzgeschichten aus dem Deutschunterricht erinnert, dem wird das sehr bekannt vorkommen, denn es führt geradewegs zur Interpretation.
Ein Kurzgeschichte, so könnte man festhalten, unterscheidet sich von einer kurzen Geschichte dadurch, dass sie eine Textform darstellt, an der sich der Leser abarbeiten muss, um sie verstehen. Es wird nicht einfach eine Geschichte erzählt, sondern es wird etwas im Text versteckt, was es zu entschlüsseln gilt. Der Reiz ein ‚echten‘ Kurzgeschichte besteht also darin, sich den Text zu erschließen – etwas, was meistens nicht nach einmaligen lesen möglich ist.
Für Autoren bedeutet das auf der anderen Seite, dass eine Kurzgeschichte nicht ‚mal eben‘ geschrieben ist, sondern eine eigene durchaus sehr anspruchsvolle Form ist, die man lernen muss zu beherrschen.
Empfehlung zur Vertiefung: ‚Theorie der Kurzgeschichte‘, Reclam 2004
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