Von allen guten und bösen Geistern verlassen

Jedes Leben hat wie ein Musikstück seinen ganz eigenen Rhythmus. So richtig der Vergleich ist, so falsch ist er wiederum auch. In Wahrheit besteht unser Leben aus einer Aneinanderreihung von Musikstücken.

Es gibt welche, die beschwingen uns, andere lassen uns tieftraurig zurück. Und wie bei Musikstücken fühlen wir uns manchmal nur als Zuhörer, statt wie jemand, der den Takt vorgibt.

Alles das trifft gleichermaßen auch auf Bücher zu. Jedes hat seinen eigenen Sound. Die besonders guten lassen einen über das einmalige Lesen hinaus nicht mehr los, mein pfeift ihre Melodie im Kopf. Wenn eines solcher guten Bücher uns vom ganz normalen Leben erzählt, dann sollte man schon Gans genau zuhören. Andernfalls entgehen einem die feinen Zwischentöne, so dass am Ende nur ein großes Missverständnis zurück bleibt.

Zu den Verdiensten der Süddeutsche Zeitung gehört meiner Meinung nach ihr Feuilleton, welches unter anderem hervorragende Buchrezensionen enthält — auch wenn die in der Vergangenheit für mich Anlass für Aufreger waren, wenn nebenbei das Ende eines Buches gespoilert wurde. Am 6. März saß ich morgens beim Frühstück, die digitale Ausgabe der SZ lesend, als mich eine Rezension aufhorchen (wie bleiben im Bild…) ließ. Es ging um das neue Buch von Jan Weiler, „Kühn hat zu tun“. Dabei soll es sich um so was wie einen Krimi handeln. Nach dem ich am Ende des Artikels angelangt war, stand für mich fest: das Buch wollte ich, nein musste ich lesen. Am besten so schnell wie möglich, nachmittags damit anzufangen, würde mich dann im Wartezimmer meiner Zahnärztin ablenken. Statt Expressversand oder ähnliches versuchte ich es mit einem Tweet, gerichtet an meine Lieblingsbuchandlung.

Pünktlich nach Feierabend und rechtzeitig vor meinem unangenehmen Termin hatte ich dann das Buch in den Händen. Bereits in den ersten Minuten wurde mir klar, keinen Fehlkauf getätigt zu haben. Es sind die Kleinigkeiten, die das,Buch zu etwas besonderem machen. Im Innenteil des Buchdeckels (vorne und hinten) findet sich eine Karte des Handlungsortes. Auf diese Weise kann man sich die Siedlung, in welcher der Protagonist Martin Kühn lebt, noch besser vorstellen. Im Übrigen eine Siedlung, die mich ein Stück weit an die autofreie Siedlung hier in Nippes erinnert. So lebt auch Kühn in dem Bereich, der autofrei ist und über einen eigen Tiefgarage verfügt.

Martin Kühn ist 44, verheiratet und hat zwei Kinder. Er wohnt auf der Weberhöhe, einer Neubausiedlung nahe München. Früher stand dort mal eine Munitionsfabrik. Aber was es damit auf sich hatte, weiß Kühn nicht so genau.
Quelle: rowohlt

Es gibt ohnehin viel, was er nicht weiß: Zum Beispiel, warum von seinem Gehalt als Polizist nach allen Abzügen ein verschwindend geringer Betrag zum Leben bleibt. Wieso sich alle Frauen Pferde wünschen. Ob er sich ohne Scham ein Rendezvous mit seiner rothaarigen Nachbarin vorstellen darf. Warum er jeden Mörder zum Sprechen bewegen kann, aber sein eigener Sohn nicht mal zwei Sätze mit ihm wechselt. Welches Geheimnis er vor sich selber verbirgt. Und vor allem, warum sein Kopf immer so voll ist.

Die gesamte Neubausiedlung „Weberhöhe“ befindet sich auf dem Gelände einer ehemaligen Munitionsfabrik, über die man ersten Kapitel (kein Prolog!) etwas erfährt. Das bleibt auch fast der einzige Moment, in dem man als Lesender einen Wissensvorsprung gegenüber der Figur hat.

Die Geschichte hat ihren eigenen Rhythmus, auf den Namen sich einlassen muss. Das Verbrechen, dessen Aufklärung die Handlung vorantreibt, ist im Grunde nur nebensächlich. Viel interessante ist es, den Lebensalltag von Kühn mitzuverfolgen, an seinen Ängsten und Nöten teilzuhaben. Vielleicht auch deshalb, weil man sich ein Stück weit in Kühn selber erkennt. Spätestens nach der Hälfte der Handlung, und das ist dann der zweite Moment, wo es einen Wissensvorsprung gibt, hat man einen Verdacht, wer denn der Mörder sein könnte. Währenddessen kommt es für Kühn immer dicker. Jan Weiler schaffte es durch seinen Erzählstil, dass man als Leser eine so starke Anteilnahme entwickelt, dass die Suche nach dem Mörder dabei in den Hintergrund tritt. Gerade das erweist sich am Ende als gelungener Kniff, wenn alle Fäden zusammen laufen und es zur Aufklärung des Verbrechens kommt. Genau kann man das an dieser Stelle gar nicht beschreiben, ohne das Ende zu verraten. Weiterlesen lohnt sich, vor allem auch deshalb, weil es Jan Weiler gelingt, ein Ende hinzulegen, welches an die Erzählkunst John Irving heranreicht.

Für mich gehört „Kühn hat zu tun“ auf jeden Fall zu den großartigsten Büchern des langsam zu Ende gehenden Winters (in Jahreszeiten zu loben, ist eine sichere Bank, statt vom „besten Buch eines Jahres“ am Anfang des selben zu sprechen). Nicht nachvollziehen kann ich Kritiken wie die Krimikiosk, in der es über Kühn (ungekürzte Hörbuchfassung vom Autor selber gelesen) heisst: „Dieser führt ein langweiliges Leben und leider überträgt sich diese Langeweile oft auf den Hörer.“ Da wären wir dann nämlich wieder beim Musik Vergleich und meiner These, dass man sich auf manchen Sachen einfach einlassen muss. Wenn man jedoch mit der Erwartung, einen Krimi zu lesen (oder zu hören) an „Kühn hat zu tun“ herangeht, ist die Enttäuschung vermutlich vorprogrammiert. Genau hinsehen hätte helfen können, denn auf dem Cover des (Hör-)buchs steht „Roman“ und eben nicht „Krimi“ als in dem Fall völlig unpassende Genre-Bezeichnung.

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