Von allen guten und bösen Geistern verlassen

Seven stellt sich in seinem Blog die Frage „Was ist Inklusion?„, weil er an einer Blogparade (die er aber leider nicht verlinkt) zum Thema teilnehmen will. Inklusion ist für mich etwas, mit dem ich mich schon lange immer wider auseinander setze. Daher lag es für mich auf der Hand, selber etwas zu diesem Thema zu schreiben. Zum Teil als Antwort auf den Beitrag von Sven, zum Teil aber auch als Sammlung eigener Gedanken.

Wenn man sich mit Inklusion auseinandersetzen will, so gilt es im Vorfeld, verschiedene Dinge zu klären, besser sogar zu definieren. Gleichzeitig sollte auch immer bewusst gemacht werden, dass man bei diesem Thema eine Vielzahl unterschiedlicher Interessenlagen hat, anhängig von den einzelnen Gruppen, für die Inklusion Relevanz ist.

Den meisten fällt sofort das Offensichtliche auf, die Betroffenen selber. Aber was ist in diesem Fall ein Betroffener? Ein Mensch mit Behinderung, führt auch Sven an, bevor er sich den unterschiedlichen Bereichen zuwendet, in denen die Behinderung zu Schwierigkeiten führen kann. Gerne erinnere ich mich an ein Motto der Aktion Mensch in dem Zusammenhang: „Behindert ist man nicht, behindert wird man.“ — aber das kann man leider auch falsch verstehen. Und hier fehlt dann auch noch die Auseinandersetzung mit dem, was eigentlich behindert bedeutet und wann ganz offiziell von einer Behinderung gesprochen wird. Ich versuche, das später noch mal aufzugreifen.

Kommen wir aber wieder zurück zu den Betroffenen. Inklusion wirkt sich nicht nur auf die Menschen mit Einschränkungen aus, sondern auch auf ihre Familienangehörige und die Personen, die von Amts wegen die Inklusion umzusetzen haben. Hier haben wir das Problem, dass Inklusion, welche eigentlich einen gesellschaftlichen Bewusstseinswandel benötigt, überwiegend nur verordnet wird. Leider viel zu häufig ohne sich der damit verbundenen Konsequenzen bewusst zu sein.

Inklusion, so mein Eindruck, kann man jedoch nicht verordnet. Man kann lediglich den Rahmen dafür schaffen, damit sie möglich ist. Im Übrigen ist zumindest in meinem Sprachgebrauch Inklusion etwas anderes als Barrierefreiheit, auf die Sven recht schnell zu sprechen kommt. Selbst die hat ihre Tücken, den was für Rollstuhlfahrer lebenserleichternd sein kann, ein glatter ebenerdiger Übergang, vom Bürgersteig an der Ampel über die Straße ist für Blinde das genaue Gegenteil, weil ihnen die ertastbare Bordsteinkante fehlt.

Am häufigsten nimmt man den Begriff Inklusion derzeit im Zusammenhang mit Schule war. Gerade in Nordrhein-Westfalenist Inklusion neben der G8 das Thema. Und gerade hier zeigt sich ganz gut, was Inklusion nicht ist, und nicht sein darf. Wenn wir uns frei machen von gewisser Sozialromantik werden wir uns eingestehen müssen, dass wir Menschen nicht gleich sind — wohl aber alle die gleiche Chance haben sollten. Wir sehen unterschiedlich aus, verhalten uns anders und nehmen unsere Umwelt unterschiedlich war. Der Normalzustand ist die Vielfalt der Stärken und Fähigkeiten. Aber auch eben der Schwächen. Manchen davon kann man aus eigener Kraft kompensieren, bei anderen ist man auf Hilfe angewiesen. Diese Hilfe ist es, beziehungsweise die Art und Weise, wie sie anscheinend auf Grund eines Systemfehlers verweigert wird, warum Inklusion in der NRW in den Schulen zu einem Problem geworden ist.

Angetreten mit dem noblen Ziel der Teilhabe setzte man sich in den Kopf, die Förderschulen (früher Sonderschulen) weitestgehend überflüssig zu machen, die Schülerinnen und Schüler zu integrieren in den normalen Schulalltag. Niemand kann bestreiten, dass es an den Förderschulen kleine Klassen und besonders qualifizierte Personal gab (und gibt). Im Rahmen der Umsetzung von Inklusion wurde in den letzten Schuljahren genau dieses Personal häufig einfach eingespart und den Lehrern an Regelschulen die Inklusion überlassen, ohne das diese dafür extra qualifiziert wurden. Daraus ergibt sich zu den an sich schon großen Klassen (30 Schüler sind bei weitem kein Einzelfall) eine zusätzliche Herausforderung, die mit jedem weiteren „inkludierten“ Menschen zunimmt. Das geht in der Praxis über die Belastungsgrenze der Lehrkräfte hinaus.

Gleichzeitig, und das ist das was an Inklusion immer wieder unterschätzt beziehungsweise verschwiegen wird, haben sowohl Politiker als auch unbetroffene Menschen beim Stichwort „Inklusion“ automatisch das falsche Bild im Kopf. Die entsprechende Werbung macht es leicht, daran zu glauben. Menschen mit Down-Syndrom, Rollstuhlfahrer, selbst Blinden und Menschen mit einer Hörbehinderung sind plakativ. „Ja, das sind unsere Behinderten“, denkt der Stammtisch. Hyperaktivität, Autismus, Lese-Rechtschreibschwäche kam man halt nicht so gut visualisieren. Auch das sind, wenn man so will, Behinderungen (lieber ist mir der Begriff Handicaps). Und auch solchen Schülerinnen und Schüler werden und wollen inkludiert. Dabei schert Inklusion alles über einen Kamm, ausbauen darf es das pädagogische Personal und auch die Inkludierten selber, denen die beste mögliche Förderung verweigert wird.

Überhaupt ist mein Eindruck, dass wir nur deshalb so intensiv über Inklusion reden (und reden müssen), weil wir als Gesellschaft bereits versagt haben. Wir werden in 10 Jahren nicht in einem besseren Land leben, weil Hürden abgebaut und Förderschulen geschlossen wurden. Echte Teilhabe ist niemals punktuell und unmöglich kostenneutral. Teilhabe bedeute auch, alle an allem teilhaben zu lassen. Was ist Inklusion wert, wenn geschlechtspezifisch diskriminiert wird? Gleiches Gehalt für gleiche Arbeit, auch hier von sind trotz jahrzehntelanger Diskussion noch entfernt.

Inklusion bedeute aber auch, Grenzen aufzuzeigen. Bestimmte Einschränkungen verwehren den Zugang zu speziellen Berufen und Tätigkeiten. Ein Blinder kann nicht als Cuter beim Film arbeiten. Jemand mit Epilepsie kann man sich als Pilot eines Passagierflugzeugs nur schwer vorstellen. Die Art wie wir damit umgehen zeigt unsere Bereitschaft an, eine ernsthafte Auseinandersetzung über das Thema Inklusion (und Behinderungen im allgemeinen) führen zu wollen.

Eine sehr bekannte Karikatur („Chancengleichheit“) von Hans Traxler zeigte schon Mitte der 70er Jahre, was Inklusion nicht sein kann und nicht ist. Unterschiede lassen sich nicht per Definition nivellieren, sondern sie müssen erkannt und bewusst gemacht werden. Für unterschiedliche Startbedingungen muss ein Ausgleich geschaffen werden. Erst dann sind die Chancen gleich. Und manchen Fällen ist es möglicherweise besser, auf eine zu frühe Inklusion zu verzichten, um überhaupt die Unterschiede ausgleichen zu können — für eine bessere Chance im Leben.

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