Von allen guten und bösen Geistern verlassen

Fast vier Jahre hat es gedauert, bis ich den Roman „Letzte Nacht in Twisted River“ von John Irving durchgelesen habe. Gekauft direkt am ersten Erscheinungstag der deutschen Übersetzung, angefangen zu lesen dann etwas später, trotz eines Spoilers in der Süddeutsche Zeitung. Nach den ersten Seiten dann legte ich das Buch wieder zur Seite. Enttäuscht, sollte ich dazu anmerken. Für mich eine absolut neue Erfahrung. Alle bis dahin erschienenen elf Roman von Irving hatte ich immer in einem Rutsch verschlungen — ich besitze wirklich alle seine Romane.

Ein paar Jahre später. Längst war ich zum zweiten Mal in Köln umgezogen. Meine Tante erzählte mir, sie würde gerade einen Roman von John Irving lesen, eben diesen „Letzte Nacht in Twisted River“. Für mich war das nach Weihnachten Anlass, das Buch wieder zur Hand zu nehmen. Diesmal schaffte ich es über das Kapitel, was mich beim ersten Mal aus der Bahn geworfen hatte. Dabei bin ich mir nicht mal sicher, ob es an Irving selber und seinem Roman liegt oder aber an der deutschen Übersetzung (fast jeder Roman hat einen anderen Übersetzer).

Eine Rezension zu diesem Roman von Irving zu schreiben, fällt mir unglaublich schwer. Eine Mischung aus Respekt und Bewunderung, vielleicht sogar weil John Irving ein literarisches Vorbild für mich ist, halten mich davon ab. Zudem ist „Letzte Nacht in Twisted River“ schwer zu fassen. Der Roman hat viele der typischen Elemente, die schon bekannt sind aus anderen Werken von Irving. Furzende Hunde, Bären, Figuren die ringen — als Sport oder mit dem Leben an sich.

Von einem Holzfällerlager in New Hampshire bis nach Toronto, von Anfang der 50er Jahre des letzten Jahrtausends bis 2005 folgt man der Handlung. Aber was heisst hier Handlung, es sind viele ineinander geschachtelte Geschichten. Schicksale, die sich kreuzen. Und doch geht es um eine Person, um Danny Baciagalupo, eigentlich die Hauptfigur des Romans. Zu Beginn der Handlung ist er 12 Jahre alt, gegen Ende über 60. So wie Irving erzählt, es immer wie ein Fenster, welches für einen kurzen Augenblick aufgestoßen wird. Man bekommt einen Einblick in das Leben der Figuren, von ihren Schicksalen.

Motor des Romans ist der Tot einer der indianischen Küchenhilfe von Dominic, dem Vater von Danny Baciagalupo, der als Koch im Holzfällerlager in Twisted River arbeitet. Sie stirbt auf Grund eines Missverständnisses, erschlagen vom 12-jährigen Danny mit einer Bratpfanne, der die Frau für einen Bären hält. Vater und Sohn fliehen vor dem gewalttätigen Sheriff, dem sie zuvor seine tote Geliebte in die Küche legen. Die Flucht wird das ganze Leben von Dominic Baciagalupo andauern. Orts- und Namenswechsel werden sich gegen Ende als vergeblich herausstellen, denn das Schicksal wurde lange Zeit vorher ausgewürfelt.

Das Schicksal, beziehungsweise John Irving, hat auch entschieden, dass aus Danny Baciagalupo ein Autor wird. Einer, der Themen zugreift wie Abtreibung, zu denen Irving selber auch geschrieben hat. Es ist aber nicht nur diese Ähnlichkeit in den Themen, sondern ein Blick hinter die Kulissen des Schreibhandwerkers selber, der sich wie ein roter Faden durch das Buch zieht. Darauf muss man sich einlassen, einlassen wollen. So wie die fiktive Figur Baciagalupo ihr Bücher schreibt, so schreibt auch Irving selber seine Romane — viele autobiographische Details, bis hin zur Schreibhütte von Baciagalupo, schimmern immer wieder durch.

Was John Irving wieder einmal beweist mit seinem Roman, ist Souveränität über den Plot. Man merkt die Konzentration des erfahrenen Autors beim schreiben, der sich trotz der vielen Verschachtelungen an keiner Stelle verzettelt. Jedes Detail sitzt. Es ist große Kunst, wie Irving das große Ganze nicht aus den Augen verliert. Am Ende kehrt er gemeinsam mit dem Leser wieder zum Anfang zurück, in dem er Danny Baciagalupo den Roman schreiben lässt, der mit dem ersten Satz „Letzte Nacht in Twisted River“ beginnt. Genau wie Irving selber entwickelt seine Figur einen Roman von hinten nach vorne, was mich erneut darin bestärkt zu glauben, es sei bisher autobiografischster Roman von Irving.

Die Figuren in „Letzte Nacht in Twisted River“ müssen einiges ertragen. Den Tod der Frau bei Dominic Baciagalupo, die Flucht und Angst, der Tod des Sohnes bei Danny, die Enttäuschungen und Niederlagen im Leben, schließlich der gewaltsame Tod von Dominic und der Selbstmord von Ketchum, dem mehr als nur Freund der Familie. Sie alle ertragen das, was ihnen aufgebürdet wird und versuchen auf ihre Weise mehr schlecht als recht drüber hinweg zu kommen.

Ertragen, weil man es ertragen muss. Das ist vielleicht die Quintessenz von „Letzte Nacht in Twisted River“. Ein Stück weit gilt das auch für den Roman selber. Man erträgt ihn, weil man Irving und seine anderen Romane schätzt. Und am Ende schafft es der große Geschichtenerzähler dann doch, einen so richtig zu packen. Die Geschichte erwischt einen wie ein guter Long Island Iced Tea — mit Verzögerung setzt die Wirkung ein.

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