Von allen guten und bösen Geistern verlassen

Sich seiner Einsamkeit in aller Deutlichkeit saß Stan im Café und nippte an einem Heißgetränk, dessen Namen ihm entfallen war. Warum auch sollte er sich an etwas erinnern, wenn ihn alle anderen vergaßen. Das ausgerechnet der Leser in vergessen hatte, schmerzte besonders.

Verlassen wir an dieser Stelle unseren Protagonisten (ihm würde das ehedem nicht auffallen) und wenden uns dennoch der Frage zu, die auch Stan beschäftigt. Wie kommt es, das wir als Leser manche Hauptfiguren vergessen, während sich andere unwiderruflich in unser Gedächtnis gebrannt habe? Mehr noch als Leser interessierte es Autoren, die daran interessiert, unvergessliche Figuren zu erschaffen. Werfen wir noch mal einen Blick zurück auf Stan. Fast tut einem die Feststellung schon leid, aber er ist einfach nicht interessant genug. Versuchen wir es mal mit einer Marotte oder Tick:

Die Momente, in denen er die Tasse zum Mund führte und wieder absetze, war die einzige, in denen er sich nicht die Haut zwischen den Fingern kratzte.

Schon etwas besser, aber es macht Stan nicht interessanter. Man stellt sich lediglich die Frage, warum er diesen Hang hat. Neugier sorgt noch nicht dafür, dass wir uns eine Figur einprägen.

Von der Decke könnte jetzt ein großes Stück herab bröckeln und die Finger seiner linken Hand zerquetschen. Mitleid mit einer Figur zu erzeugen geht zwar auch, insbesondere auch auf eine wesentliche elegantere Art als die gerade angedachte, sorgt aber immer noch nicht für den gewünschten Effekt.

Der Schlüssel liegt möglich in der Identifikation mit der Figur. Dafür gibt es zwei Wege, die man als Autor beschreiten kann. Entweder sorgt man für eine besondere Gabe oder Fähigkeit, die der Leser auch gerne hätte „So fliegen wie der Typ im roten Umhang würde ich auch mal gerne können“ (wobei überlebensgroße Figuren im Roman nicht Superhelden sein müssen, denn das wäre eine falsche Interpretation von „Larger Than Life“) oder aber der Protagonist verfügt über bestimmte Merkmale, die dem Leser nur zu bekannt vorkommen. Ist man da als Autor zu allgemein, läuft der Versuch, eine Grundlage für die Identifikation zu schaffen, ins Leere. Blonde Haare und Brille reichen nicht aus. Wenn der Protagonist aber auf die gleiche Grundschule gegangen ist und genau das rote Fahrrad fuhr, was man sich selber als Kind immer gewünscht aber nie bekommen hatte, dann wird man ich die Protagonisten wohl auch nach Ende der Gesichte merken. Und sei es nur in der Hoffnung, ihm auflauern und das Fahrrad wegnehmen zu können.

Kehre wir noch mal zurück an den Anfang. Fast an den Anfang. Wenn Stan eine Marotte hätte, die ungewöhnlich ist, würde wie auch nicht vergessen. Das Kratzen ist das nicht geeignet, möglicherweise aber etwas anderes.

Wie immer wartete Stan, bis der Kellner außer Sichtweite war, bevor er die Tasse links auf exakt neun Uhr neben den Unterteller stellte. Noch mal vergewisserte er sich, dass ihn niemand beobachtet. Erst dann goss er aus der Tasse etwas von dem Kaffe auf den Unterteller, um sogleich diesen an den Mund zu führen und die Flüssigkeit mit einem schlürfenden Geräusch einzusaugen.

Ich für meinen Teil dippe eher Kekse in den Kaffee, bis sie weich werden um dann den Kaffee davon abzulutschen, aber Stan ist eben etwas anders.

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