Von allen guten und bösen Geistern verlassen

Grob gerechnet hätte er noch 27 Jahre, vier Monate und acht Tage mit seiner Frau zusammen leben müssen. Zumindest war das seine statistische Restlebenserwartung. Zu Grunde lag dabei auch die Annahme, dass Frauen älter werden als das so genannte starke Geschlecht. Seine Frau hätte ihn also höchstwahrscheinlich überlebt. Seiner Einschätzung nach nicht nur das, sondern sie hätte durch ihre permanente Nörgelei auch dafür gesorgt, dass er vor seiner Zeit verschieden wäre.

Das würde jetzt nicht mehr passieren, denn er war seiner Frau zuvorgekommen. Auch wenn es Tage gegeben hatte, an denen er sich am liebsten still und heimlich im Wald erhängt hätte, erfreute er sich in diesem Moment bester Gesundheit, was man von seiner Frau nicht mehr sagen konnte. Mit einer Gelassenheit, die nach jahrelanger Abwesenheit erst heute wieder zurückgekehrt war, saß er in der Sonne vor einem Café und lächelte in seinen Milchkaffee. Extra viel Zucker hatte reingeschüttet, denn er mochte es süß. So süß, wie die Bedienung, auf deren Hinter er lange gestarrt hatte. Wegen beidem musste er sich nie mehr Vorwürfe anhören. Er war wieder ein freier Mann. Zumindest fast, denn es galt noch ein eher unschönes Problem zu lösen. Bisher hatte er noch nie Gardinen selber aufgehängt. Das hatte bisher immer seine Frau gemacht, die er heute bei der Verrichtung dieser Tätigkeit im Wohnzimmer gestört hatte. Die Sache mit der Leiter würde als Unfall durchgehen können, wenn er nicht vorher die Kante des Marmortisches neu ausgerichtet hätte. Mathematisch ziemlich exakt so, dass beim Sturz von der Leiter das Genick der betreffenden Person genau auf die Kante aufschlagen war. Eine solche praktische Anwendung der trockenen Mathematik hatten seine Schüler in der Oberstufe immer vermisst.

Genussvoll trank er einen großen Schluck Kaffee. Das war kein Schonkaffe, so wie er ihm in den letzten Jahren immer hatte trinken müssen. Jetzt fehlt ihm eigentlich nur noch eine Zigarette, dabei hatte er vor Jahren das Rauchen aufgegeben. Nein, aufgeben müssen, selbstverständlich wegen der Gardinen. Vielleicht sollte er sie alle runterreißen. Er strich sich über das unrasierte Kinn und dachte noch Mal darüber nach. Weg mit den Gardinen und zusammen mit der Leiche in der Wohnung, die er nun ganz für sich alleine hatte, entsorgen. Ihm kam das so brillant vor, dass er schmunzeln musste. Der Zustand hielt nur kurz an, denn dann fiel ihm ein, dass er noch nicht wusste, wo er seine Frau entsorgen sollte. Man konnte sie schliesslich nicht einfach zum Sperrmüll an die Straße legen. Selbst Elektrogeräte wurden nicht mehr mitgenommen. Weiter darüber grübelnd, trank er seinen Kaffee aus, bezahlte, nicht ohne ein Trinkgeld zu geben, und verschob weiter Überlegungen auf später. Der Kühlschrank zu Hause wartet nach langer Diät darauf, mit leckeren Sachen gefüllt zu werden.

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