Von allen guten und bösen Geistern verlassen

Es war wirklich eine Herausforderung. Aber ich liebe solche Herausforderungen. Ich denke, wenn ihr mitspielt, werde ich das ganze in einem Monat noch mal wiederholen. Vielen Dank fürs Mitmachen und viel Spaß beim Lesen!

Manchmal sind die Erinnerung an ein besseres Leben eine Qual. Selbst Klebstoff in Tüten, sofern man ihn sich leisten kann, schafft keine Linderung. Zumindest solange nicht, bis einem irgendwann endlich die finale Lösung ereilt. Davon war er noch weit entfernt, auch wenn er sich schon längst mehr tot als lebendig fühlte. Ohne Geld aber war an Rausch nicht zu denken. So blieb ihm die Wirklichkeit, die er auf einem verlassenen Parkplatz an sich vorbeiziehen ließ. Einst hatten hier Luxusautos zum Verkauf gestanden. Die ersten Regenwolken zogen am Himmel auf. Nicht Bielefeld, sondern eine andere verwunschene Gegend im Hartz 23 Land hatten mit Abstand den meisten Niederschlag im Jahr. In der Wettervorhersage hatte sie von einem starken Sturm gesprochen. Seinen Platz auf der Wiese der Träume würde er wohl verlassen müssen. Vor einem Gewitter war er unter seinem Tarp auch nicht sicher. Bei einem Blitzeinschlag würde er als verkohltes Wrap enden.
Ein paar Straßen weiter befand sich eine Brücke, unter der er Schutz suchte. Andere, deren Zukunft genauso düster aussah wie seine, hatten dort auch schon Zuflucht gefunden. Von Minute zu Minute wurde der Regen immer stärker, setzte die Straßen unter Wasser. Aus einem Berg mit Altpapier suchte er sich Zeitungen und anderes Material zum zudecken. Vor dem Einschlafen viel sein Blick auf einen Teil seiner Decke. Ein ausgebleichter Prospekt von akamedia versprach eine strahlende Zukunft durch Weiterbildung. Ein Lächeln huschte durch sein zahnloses Gesicht, bevor das Reich der Dunkelheit ihn willkommen hieß.

Der letzte Traum, an den er sich nach dem Aufwachen noch erinnern konnte, handelte von einem Besuch aus der Schweiz. Völlig eingeschneit und kurz vor dem Tod durch Erfrieren sah er einen Bernhardiner mit einem Fässchen um den Hals auf sich zukommen. Die Zunge des Hundes leckten ihn zur Begrüßung durchs Gesicht. Davon wurde er wach, nur um in das Gesicht von Winfried, dem Köter von einem der anderen Obdachlosen zu starren. Angeekelt verscheuchte er den Hund. Seine Füße fühlten sich ganz kalt an. Als er hinunterblickte, sah er, dass man ihm im Schlaf die Schuhe und Socken geklaut hatte. Mühsam quälte er sich hoch aus den Zeitungen und schüttelte eine hartnäckige Broschüre von sich ab. Als erstes würde er sich wohl jetzt um seine Schuhe kümmern müssen. Schließlich konnte er nicht Barfuß durch die Straßen laufen. Um sein Essen im „(W)armen Tisch“ zu bekommen, musste er auch Schuhe oder zumindest was ähnliches anhaben. Die Helfer vom „(W)armen Tisch“ waren gütig, aber auch streng und achteten immer darauf, dass ein gewisses Mindestmaß an Kleiderordnung in ihren Räumen eingehalten wurde. Beim Gedanken an ein Dach über den Kopf, auch wenn es nur für kurze Zeit sein sollte, und eine heiße Suppe erhellte seine trübe Stimmung. Zumindest für einen kurzen Moment, bis ihm wieder einfiel, dass er noch immer keine Schuhe hatte. Auf der Suche nach Altkleidersäcken und luxuriös gefüllten Mülltonnen tapste er mit leerem Magen durch einen der Außenbezirke von Z, seinen Blick immer auf die Steine auf dem Boden geheftet. Nicht nur, um eine mögliche Gefahr für seine nackten Füße vorzeitig zu erkennen, sondern auch um die Blicke der anderen Passanten nicht zu sehen. Laute Stimmen zu seiner Rechten ließen ihn dennoch stehen bleiben und kurz hochblicken. Er befand sich vor einem Elektrogeschäft. Im Schaufenster lief ein sehr laut eingestellter Fernseher. Ein Nachrichtensprecher berichtet vom neugewählten Parlament in London. Neusten Hochrechnungen zu folge hatte die IRA die meisten Stimmen erhalten.
Die Tür zum Geschäft öffnete sich wie die Pforten zum Paradies und eine elegant gekleidet Frau schritt heraus, einen Karton mit Griff in der rechten Hand. Schnell huschte er weiter. Was in dem Karton war, würde er nie vergessen, denn auch er hatte früher einmal so eine Nachttischlampe besessen.

In einer Seitengasse stand die Mülltonne des Elektrogeschäfts. Sicherlich würde er darin keine Schuhe finden, aber vielleicht etwas anderes brauchbares. Ganz oben lag eine Eismaschine, aus deren Seite mehrere Kabel hingen. Sie roch verschmort. Er legte sie zu Seite und kramte weiter. Das Geräusch einer sich öffnenden Hintertür stoppte seine Suche. Noch bevor er vom Ladenbesitzer gesehen werden konnte, sprang er über eine Brandmauer zum Nachbargrundstück. Hinter sich hörte er lautes Fluchen und den zuschlagenden Deckel der Mülltonne. Das Zwitschern einer Amsel lenkte seine Aufmerksamkeit weg von der Mülltone. Er befand sich in einem kleinen Hinterhof, zwischen den Hauseingängen lag eine Buchhandlung. Keine dieser seelenlosen Bestsellerlisten-Tempel, sondern ein Antiquariat. Alten Büchern konnte er noch nie widerstehen und so betrat er, sein Aussehen, seinen Hunger und seinen Zustand vergessend, den Laden. Der Besitzer stand hinter dem Tressen und lächelte ihn an. Statt ihn zurückzuweisen, nickte er nur kurz einladend und lutschte dann weiter an seinem schweizer Kräuterzucker Bonbon, dessen Geruch sich mit dem Duft von altem Papier mischte und durch die Regale zog. Vorsichtig berührte er mit seinem Zeigefinger die Rücken der Bücher. Auf einer Stehleiter lag aufgeschlagen ein Buch über die Mythen des Mittelalters. Neben dem Text war links die Illustration eines Keuschheitsgürtels abgebildet. Auch wenn ihn die Frage früher mal lange beschäftigt hatte, waren solche Dinge doch mittlerweile belanglos für ihn geworden. Ein anderes Buch erregte vielmehr seine Aufmerksamkeit. Er kannte die Abenteuer Tom Sawyers noch aus seiner Kindheit. Seit damals war Mark Twain einer seiner Lieblingsschriftsteller. Am liebsten hätte er das Buch mitgenommen, um sich zumindest etwas seine dunklen Tage zu erhellen. Bezahlen aber konnte er es nicht. Stehlen wollte er es nicht, denn das hätte ihm den letzten Rest seiner verbliebenen Würde genommen. Der alte Ladenbesitzer musste wohl sein Begierde, aber auch sein zögern gemerkt haben. Er kam zu ihm rüber, legte ihm seine Hand auf den Rücken und gab ihm mit der anderen das Buch. Nur kurz nickte er mit den Augen, dann verschwand er wieder hinter seinen Tressen. Überglücklich und strahlend wie ein Honigkuchenpferd verließ er immer noch barfuß das Antiquariat.

Weiter durch die Straßen, mit leerem Magen. Das Buch würde seinen Hunger nicht stillen, aber zumindest für kurze Zeit die Gedanken daran vertreiben. Um die Mittagszeit herum kam er an einem Park vorbei. Das satte Grün der Bäume und der kühle versprechende Schatten lockte ihn an. Nach dem Gewitter gestern und der folgenden Kälte war es jetzt am Tage wieder deutlich wärmer geworden. Fast schon richtig sommerlich heiß. Auf einer Parkbank, die er noch ganz für sich hatte, ließ er sich nieder. Seine Füße schmerzten. Im Buch blätternd, stieß er auf eine Stelle, wo Tom Sawyer einen Angelausflug unternahm. Den Geruch von Fisch konnte er förmlich riechen. Der Geruch entsprang jedoch nicht seiner Vorstellungskraft, sondern von den Resten eines Fischbrötchens, das jemand in den Müllkorb neben der Bank geworfen hatte. Seinen Ekel überwindend fingerte er danach und verschlang es hastig. Noch vor ein paar Jahren hätte er sich nicht vorstellen können, jemals in einer solchen Situation zu sein. Man verdiente gutes Geld im mit dem Internetboom, leistete sich einen teuren Geschmack. Abenteuer erlebte man im gebuchten, durchorganisierten Urlaub oder in den Onlinewelten von Everquest und andern Rollenspielen. Echte Gefahr und wirkliche Angst waren ihm damals fremd gewesen. Den Zusammenbruch de Booms am Ende des Jahrtausends überstand er noch ganz gut, hatte nur ein paar leichte Kratzer an seinem Ego davongetragen. Dann aber nahm die Inflation immer stärker zu. Die Preise für Lebensmittel verdoppelten sich innerhalb eines Jahres. Mieten stiegen nicht nur, sondern der gesamte Mietmarkt erlebte einen völligen Wandel. Durch massiven Abriss von leerstehenden Wohnung hatte es eine kleine Gruppe von Investoren geschafft, Wohnraum zu einem knappen Gut zu machen. Umzüge wurden immer seltener, die Miete wandelte sich in die Form einer Lebensschuld. Diejenigen, die über ein eigenes Haus mit Garten verfügten, wurden zu Selbstversorgern und konnten ihre Lebensmittel zu einem großen Teil selber anbauen. Besonders privillegiert waren die Bauern, die fortan nicht mehr auf Subventionen angewiesen waren. Im Zuge steigender Gewinne verpflichteten sie sich, für die Verlierer des Wandels in den Stätten kostenlos Mahlzeiten anzubieten. Das war die Geburtsstunde des „(W)armen Tischs“.
Seine Gedanken schweiften weiter ab. Vor sich sah er sein damaliges Ich, dem er nicht mehr sehr ähnlich sah. Immer weiter schweiften seine Gedanken in die Vergangenheit. Ein Hecheln riss ihn zurück ins Heute. Vor ihm stand Winfried und hatte ein Stöckchen im Maul.

Das Holz des Stöckchens sah sehr frisch aus. Nicht weit entfernt im Park hörte er eine Kettensäge. Also würde auch dieser Park mit seinen Bäumen den Einsparungen zum Opfer fallen. Die Stadt hatte kein Geld mehr, ihre Grünanlagen zu pflegen und war schon seit längerem dabei, überall die Bäume zu fällen und die Grundstücke anschließend zu verkaufen. Aus dem Holz wurde in den meisten Fällen Holzkohle gemacht, die sich sehr gut verkaufen ließ. Gerade kleine türkische Imbissbuden, die sich den Strom nicht mehr leisten konnten, nutzen die Kohle zur Zubereitung ihrer Gerichte. Wie gerne würde er noch mal Kebapfleisch essen. Ohne Geld und Zähne würde dies aber nur eine Wunschvorstellung bleiben. Winfried stand immer noch vor ihm und schaute mit großen Augen. Er nahm das Stöckchen und warf es achtlos hinter sich. Sollte der Hund ihn doch einfach nur in Ruhe lassen. Mit einem Stöhnen stand er auf. Langsam setzte er einen Fuß vor den anderen und bewegte sich weiter durch die Straßen von Z. In den Außenbezirken hatten die meisten Tankstellen schon längst aufgegeben. Benzin bekam man nur in der Bank, wenn man Kreditwürdig war. Die Umwälzung hatte vieles wegspült. Menschen waren in der Armut gestrandet wie Treibgut. Videotheken, in den 80er Jahren des vergangen Jahrtausend noch ein Renner, waren nur noch eine Legende. In dem Haus, an dem er vorbeiging, schien früher einmal eine Videothek untergebracht gewesen zu sein. Die Fenster waren Vernagelt, das Glas der Türen zersplittert. Den Scherben ausweichend drückte er gegen die Tür. Sie ließ sich öffnen. Durch die Ritzen im Holz viel Licht von der Straße in den Raum. Im Zwielicht konnte er an einer Wand ein Plakat von Dolly Buster erkennen. Die Videothek hatte wohl versucht, sie in ihren letzten Tagen auf eine bestimmte Sorte Filme zu spezialisieren. Sein Blick wanderte weiter durch den Raum, der stark nach Urin und Verwesung roch. Aus einer Ecke blitze ihn etwas an. Wie ein Kind freut er sich über seinen gefundenen Schatz, ein alter MP3-Player, der längst seinen Dienst eingestellt hatte. Trotzdem war er glücklich. In eine Ecke gehockt, versuchte er etwas zu schlafen. Seinen Schatz hielt er fest in der Hand. Er musste wohl tatsächlich für einige Stunden geschlafen haben, denn als er aufwachte, war es draußen bereits dunkel. Zusammen mit seinem Schatz verließ er die Videothek. Er setzte die Kopfhörer auf und verließ Z. Richtung Norden. Überglücklich summte er die Lieder, der er noch kannte, schaute auf zu den Sternen und sah den Feuerschweif eines Space Shuttles. Neue Menschen wurden in die Minen der Kolonien gebracht. Es war also doch Glück, das ihn auf der Erde hielt, denn er war frei.

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